Tatortleser

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Kluftinger schüttelte die Gedanken ab. Er wollte sich jetzt ganz auf den Tatort konzentrieren. Das war eine seiner Stärken: dass er die Orte „lesen“ konnte, wie einmal ein Vorgesetzter nach einer aufgeklärten Diebstahlserie zu ihm gesagt hatte. Er hoffte, dass das auch heute wieder funktionieren würde.

(Volker Klüpfel & Michael Kobr: Milchgeld. Kluftingers erster Fall. Piper Verlag, München 2005, S. 51)

Kluftingers Ungeschicklichkeit im Alltag steht im krassen Gegensatz zu seinen kriminalistischen Fähigkeiten. Er verlässt sich auf seine genaue Beobachtungsgabe, sein fotografisches Gedächtnis, seine Phantasie, seine Kombinationsfähigkeit und darauf, dass er von den anderen meistens unterschätzt wird – diesen „Columbo-Effekt“ macht er sich zunutze.

Kluftinger war ein bisschen überrascht, als er die Wohnung betrat. Es roch zwar so muffig wie in den meisten alten Wohnungen, in denen er im Laufe seines Polizistenlebens gewesen war. Alles schien aber sehr ordentlich zu sein. Der Aufzug der Frau hatte ihn etwas anderes vermuten lassen und er ärgerte sich über seine voreiligen Schlüsse.

Kluftinger konzentriert sich so stark auf den Raum, dass er zunächst die eigentümliche Sprechweise der Bewohnerin überhört. Erst als sie ihn mit den Worten „er kann ruhig reinkommen“ auffordert, ihr Wohnzimmer zu betreten, bemerkt er. Dass sie die dritte Person gebraucht, wenn sie ihn anspricht.

Eine seltsame Angewohnheit, die ihm aber schon des Öfteren bei älteren Allgäuern aufgefallen war. Hatten die Menschen hier wirklich einmal so gesprochen? Er konnte es sich kaum vorstellen. Vielleicht war es aber auch nur eine Altersmarotte und er würde eines Tages genauso reden.

(Ebda., S. 124)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Gunna Wendt