Erste deutsche Kriminalnovelle

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Lange Zeit war eine Erzählung aus dem Zeitalter Ludwig des Vierzehnten Schullektüre und sorgte für Überraschungen: Dass sich hinter dem berühmten gelben Einband unter dem Titel Das Fräulein von Scuderi eine der spannendsten Kriminalstorys verbarg, hatte man nicht erwartet. Auch dieser Text könnte den Untertitel Die Geschichte eines Mörders tragen, denn E.T.A. Hoffmann liefert, ähnlich wie Patrick Süskind in seinem Roman Das Parfum, eine psychologische Studie zum Thema Genie und Wahnsinn. Und auch sein Protagonist René Cardillac betreibt in Paris seine Kunst – und sein Unwesen. Er ist der berühmteste Goldschmied Frankreichs, der für seine Kunst lebt – und tötet. In einer Schlüsselszene erklärt er den beiden Damen, der Marquise de Maintenon und Madame de Scuderi, was ihm seine Arbeit bedeutet, als ihm die beiden atemberaubend schöne Schmuckstücke zeigen. 

Cardillac warf kaum einen Blick darauf und packte, der Marquise ins Gesicht starrend, Armbänder und Halsschmuck schnell ein in das Kästchen, das daneben stand und das er mit Heftigkeit von sich wegschob. Nun sprach er, indem ein hässliches Lächeln auf seinem roten Antlitz gleißte: „In der Tat, Frau Marquise, man muß René Cardillacs Arbeit schlecht kennen, um nur einen Augenblick zu glauben, dass irgendein anderer Goldschmied in der Welt solchen Schmuck fassen könne. Freilich ist das meine Arbeit.“ „So sagt denn“, fuhr die Marquise fort, „für wen Ihr diesen Schmuck gefertigt habt?“ „Für mich ganz allein“, erwiderte Cardillac, „ja, Ihr möget“, fuhr er fort, als beide, die Maintenon und die Scuderi, ihn ganz verwundert anblickten, jene voll Misstrauen, diese voll banger Erwartung, wie sich nun die Sache wenden würde, „ja, Ihr möget das nun seltsam finden, Frau Marquise, aber es ist dem so. Bloß der schönen Arbeit willen suchte ich meine besten Steine zusammen und arbeitete aus Freude daran fleißiger und sorgfältiger als jemals. Vor weniger Zeit verschwand der Schmuck aus meiner Werkstatt auf unbegreifliche Weise.“

(E.T.A. Hoffmann: Das Fräulein von Scuderi. Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 1969, S. 25)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Gunna Wendt