Thomas Mann: Gedanken im Kriege

Bis zum Kriegsausbruch 1914 spielt die Politik für Thomas Mann kaum eine Rolle. Der frühe Mann ist insofern wirklich unpolitisch, als er für politische Freiheit „gar kein Interesse“ hat (Brief an Heinrich Mann vom 27. Februar 1904) und er im großen Ganzen des Wilhelministischen Staates seine Ordnung findet. Die in den späteren Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) hervorgehobene Bemerkung, der Obrigkeitsstaat sei „die dem deutschen Volke angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform“, findet allerdings ihre Grenzen darin, dass Thomas Mann für die Freiheit der Kunst eintritt: Als er 1911 im Zensurbeirat der Münchner Polizeidirektion vertreten ist, setzt er sich vehement gegen Zensureingriffe ein, bis er 1913 in der Debatte um die Freigabe von Frank Wedekinds Lulu unterliegt.

In den Strudel der Kriegsbegeisterung wird er im August 1914 gerissen; bereits Mitte September hat er einen Propagandaaufsatz mit dem Titel Gedanken im Kriege abgeschlossen, der im November 1914 in der Neuen Rundschau erscheint. Der Aufsatz führt zum Zerwürfnis mit seinem Bruder Heinrich, was sich dann in weiteren Aufsätzen und Kommentaren der beiden niederschlägt.

Die Parteinahme für Deutschland und den Krieg fügt sich in die Begriffsproblematik von „Geist und Leben“ ein – der Krieg wird dabei als „Befreiung aus der [geistigen] Dekadenz“ gesehen. Während Deutschland mit den Begriffen „Kunst“ und „Kultur“, „Moral“ und „soziales Kaisertum“ besetzt wird, erscheint Frankreich vor dem Hintergrund der Begriffe „Literatur“ und „Zivilisation“, „Politik“ und „plutokratische Bourgeois-Republik“. Die entscheidende Wendung ist nun die, dass Kunst und Krieg von Thomas Mann in einem Atemzug zusammengedacht werden:

Jenes siegende kriegerische Prinzip von heute: Organisation – es ist ja das erste Prinzip, das Wesen der Kunst. Das Ineinanderwirken von Begeisterung und Ordnung; Systematik; das strategische Grundlagen Schaffen, weiter Bauen und vorwärts Dringen mit „rückwärtigen Verbindungen“; Solidität, Exaktheit, Umsicht; Tapferkeit, Standhaftigkeit im Ertragen von Strapazen und Niederlagen, im Kampf mit dem zähen Widerstand der Materie; Verachtung dessen, was im bürgerlichen Leben „Sicherheit“ heißt [...]: Dies alles ist in der Tat zugleich militärisch und künstlerisch.

(zit. n. Kurzke, Hermann [19973]: Thomas Mann, S. 137)

Die Gleichung Kunst – Krieg findet sich ebenfalls in Thomas Manns dichterischem Werk aus den Vorkriegsjahren wieder, in der Novelle Tod in Venedig von 1912 – dort rechtfertigt die Hauptfigur Gustav von Aschenbach ihr Künstlerleben damit, dass auch sie „Soldat und Kriegsmann“ gewesen sei, denn „die Kunst war ein Krieg, ein aufreibender Kampf, für welchen man heute nicht lange taugte.“

Obgleich Aschenbach an seiner Lebensleistung letztlich scheitert, erhofft sich sein Verfasser Thomas Mann, dass der Krieg ihn selbst zu jener (sittlichen) „Geradheit, Lauterkeit und Haltung“ – die der Essay Gedanken im Kriege beschwört – führen werde. In Wirklichkeit geht es ihm nämlich nicht um den eigentlichen Krieg an der Front, von dem er so gut wie nichts weiß, sondern um seine eigene Problematik als Künstler. Für ihn bietet der Krieg deshalb „die Erlösung vom ‚Geist’, vom Erkenntnisekel, vom Ästhetizismus, von der elenden Schwäche des Willens, mit anderen Worten, den Ausweg aus der Dekadenz. [...] Er gibt wirkliche, nicht nur gespielte Gesundheit und Geradheit, echte Deutschheit und nicht nur Velleität“ (d.h. unechtes Wollen), wie das „kluge Lumpenpack“ elender Literaten.

(Kurzke, Hermann [19973]: Thomas Mann, S. 136-139)

(Philippi, Klaus-Peter [1979]: Volk des Zorns, S. 33-50)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Peter Czoik