Heinrich Mann: „Wir gebildeten Bürger“

Ob Einer abgemurkst wird und ein Anderer den Thron seiner Väter besteigt, das ist, von Stimmungsschwankungen der Börse abgesehen, für die Geschäfte ganz gleich. Gebildete Menschen wissen ausserdem, dass die Existenz eines Monarchen vor der reinen Vernunft nicht ohne weiteres Stand hält. Er ist von Gottes Gnaden, schön, man soll nichts sagen gegen die Religion, sie muss dem Volke erhalten bleiben. Aber vernunftgemäss ist es selbstverständlich nicht [...]

Wir gebildeten Deutschen haben erkannt, dass man durchaus nicht immer fordern soll, was vernünftig u. gerecht wäre, oder was gewissen Begriffen entspräche, von menschlicher Würde, geistiger Reinlichkeit. Stellt man an die Spitze eines Staatswesens die Vernunft, wohin führt sie denn das Staatswesen? Man blicke nach Frankreich! [...]

Und dadurch ist Allem, was Menschen an überspannten Idealen nur haben können, Thür u. Fenster geöffnet. Herein, Gerechtigkeit! Herein, Wahrheit! Herein Gleichheit und Brüderlichkeit, will sagen das Ende der Welt!

Das, was der Schriftsteller Heinrich Mann am 2. Juli 1914 in München nach dem Attentat in Sarajewo (28.6.1914) hier andeutet – die Parteinahme für den Monarchen und dessen ‚unvernünftiges’ Gottesgnadentum –, ist in Wahrheit ein sarkastischer Text gegen die Monarchie und die ihr anhängenden sog. „gebildeten Menschen“ unter dem Titel Wir gebildeten Bürger. Es ist mit Abstand das einzige überlieferte Manuskript Heinrich Manns in den wenigen Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges und hat in einem entfernten Archiv in der Schweiz fast hundert Jahre überdauert. Es darf angenommen werden, dass die weitere politische Entwicklung den Druck eines Textes dieser Tonart verhindert hat.

(Heinrich Mann: Wir gebildeten Bürger, http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=19469)

(Klein, Wolfgang [2014]: Überspannte Ideale?, http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=19441)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Peter Czoik