Deutsche Hörer!

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbthemes/2014/klein/rebell_hoff-61267_240.jpg
Abreise der Familie Mann in die USA, 3. August 1949 (Bayerische Staatsbibliothek/Hoffmann).

1938 emigrierte Thomas Mann in die USA. Nachdem er dort einige Radioansprachen gegen den Nationalsozialismus gehalten hatte, bat ihn die englische BBC im Herbst 1940, sich mit kurzen Ansprachen direkt an seine Landsleute zu richten. Anfangs sandte er seine Texte nach London, wo sie von einem Sprecher eingelesen wurden. Später sprach er sie selbst in Los Angeles auf Schallplatte ein. Diese Platten wurden nach New York gesandt und von dort aus telefonisch nach London übertragen. Von Oktober 1940 bis Mai 1945 wandte sich Thomas Mann insgesamt 58 mal fünf bis acht Minuten an seine Landsleute und informiert sie über die politische Lage und das Kriegsgeschehen. Er klärte sie über die Ereignisse von Coventry ebenso auf wie über das Warschauer Ghetto und die Judenverfolgung. Überzeugt von einer unüberwindbaren Differenz zwischen der deutschen Kultur und dem Nationalsozialismus versuchte er, die Deutschen aus dem Exil heraus zum Widerstand zu animieren.

Deutsche Hörer!

Ein deutscher Schriftsteller spricht zu euch, dessen Werke und Person von euren Machthabern verfehmt sind, dessen Bücher, selbst wenn sie vom Deutschesten handeln, von Goethe zum Beispiel, nur noch zu fremden, freien Völkern in ihrer Sprache reden können, während sie euch stumm und unbekannt bleiben müssen. Mein Werk wird eines Tages zu euch zurückkehren, das weiß ich, auch wenn ich selbst es nicht mehr kann. Solange ich lebe aber, und selbst als Bürger der neuen Welt, werde ich ein Deutscher sein, und leide unter dem Schicksal Deutschlands, und all dem, was es nach dem Willen verbrecherischer Gewaltmenschen seit sieben Jahren, moralisch und physisch, der Welt zugefügt hat.

(Thomas Mann: Deutsche Hörer! Radiosendungen nach Deutschland aus den Jahren 1940-1945. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013, S. 11)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Michaela Karl