D. H. Lawrence in Oberbayern: Otto Gross

Do you know München and the Isarthal? I can recommend it to you any day for a treat – it knocks the Rhineland into a cocked hat. (The Letters of D. H. Lawrence, Vol. 1, S. 417)

Im Frühjahr und Sommer 1912 hält sich D. H. Lawrence an der Seite von Frieda Weekley, geborene von Richthofen, in München und im südlichen Umland auf. Vorausgegangen ist eine weitreichende Entscheidung: Lawrence hat sich der Gattin seines Französischprofessors Ernest Weekley, bei dem er seit 1906 studiert, angeschlossen und ist mit ihr aus Nottingham in ihre deutsche Heimat entflohen. Bereits am 18. Mai 1912 weilt Frieda in München, Lawrence kommt am 24. Mai aus Waldbröl nach, um sie dort zu treffen. Während er die enge Kleinbürgerlichkeit seiner Herkunft in England zurücklässt, flieht sie vor der bürgerlichen Konvention ihrer viel zu früh eingegangenen freudlosen Ehe. Verantwortlich dafür ist eine schillernde Figur der Schwabinger Bohème, die Frieda schon im Jahre 1907 kennengelernt hat: der österreichische Psychoanalytiker und Sigmund Freud-Schüler Otto Gross. Gross verbindet die Lehre Freuds mit der Emanzipation des Sexus zu einer radikalen anarchistischen Gesellschaftskritik – aus der Befreiung der Sexualität des Einzelnen soll die Befreiung der ganzen Gesellschaft hervorgehen. Als Otto Gross Frieda vorschlägt, ihren Mann zu verlassen, ist es wiederum München, wohin sie zu ihm stoßen soll. Wie ihre Schwester Else von Richthofen, verheiratete Jaffé, hat auch sie eine spontane Liebesaffäre mit ihm, bleibt aber zeitlebens eine glühende Anhängerin seiner „Erotischen Weltanschauung“. Im Roman Mr. Noon wird auf dieses libidinöse Verhältnis in der Figur Johanna Keighleys zu ihrem „phantastischen Liebhaber“ Eberhard mehrfach angespielt:

„Der gewöhnlichste Mann, den ich je hatte, ist eigentlich mein Ehemann. – Nein, ich hatte einen wunderbaren Liebhaber – einen Arzt und Philosophen, hier in München. Oh, ich liebte ihn so sehr – und ich wartete auf seine Briefe...“

„Wann, vor Ihrer Heirat?“

„O nein. Es ist erst zwei Jahre her. Er war zuerst Louises [Johannas Schwester, Anm. d. Verf.] Liebhaber. Er war es, der mich eigentlich befreit hat. Ich war einfach die konventionelle Ehefrau, die das Eingepferchtsein schlicht verrückt machte. Aber er war wunderbar, Eberhard. Ah, ich habe ihn wirklich geliebt.“ (Mr. Noon, S. 185)

„Liebe ist Sexualität. Aber man kann seine Sexualität nur im Kopf haben, wie die Heiligen früher. Das nenne ich allerdings eine Form der Perversion. Sie nicht? Sexualität ist Sexualität und sollte in der angemessenen Form ihren Ausdruck finden – finden Sie nicht? Und es gibt kein starkes Gefühl, das in jemandem geweckt wird und nicht ein Element von Sexualität enthält –“ (Mr. Noon, 187)

„Einfach Sexualität. Sie ist die Art von Magnetismus, der die Menschen zusammenhält und größer ist als die Individuen.“ (Ebda.)

Der Sexus als Vehikel einer strengen Naturphysik und Grundlage einer geschlossenen Gesellschaft, die Erneuerung der Welt aus dem Geist der Mythen: Von diesen teilweise kruden Ideen Otto Gross' bleibt auch der englische Dichter D. H. Lawrence nicht verschont. Den ewigen Antagonismus zwischen Reflexion und Emotion, Rationalität und Spiritualität, Zivilisation und Kultur, christlichem Humanismus und neuheidnischem Vitalismus – dargestellt anhand traumatischer Geschlechterbeziehungen – hat Lawrence nicht zuletzt in seinem bekanntesten Werk Lady Chatterley (Lady Chatterley's Lover) zur Sprache gebracht. Doch noch befindet er sich am Anfang seiner schriftstellerischen Karriere.

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Peter Czoik