Graf-Arco-Schießen

Am 28. Juli, 3. und 4. August 1929 wurde in Murnau zum 120. Mal das jedes Jahr stattfindende „Graf-Arco-Schießen“, benannt nach dem Grafen Maximilian von Arco (1777-1809),[1] gefeiert. Es erinnert an die Befreiung Murnaus von den Tirolern durch den Grafen von Arco im Jahr 1809 und diente Horváth zur Abfassung der Skizze Ein sonderbares Schützenfest. Der pompöse Aufmarsch der Schützen gibt Horváth Anlass, über die viel beachtete Festivität kritisch zu reflektieren.[2] Er zitiert aus dem für die Zeitschrift Das Bayerland verfassten Artikel „Murnau einst und jetzt“ wörtlich, wobei er die sich ausschließlich mit Lokalkolorit begnügenden Äußerungen durch die in Klammern gesetzten „Anmerkung[en] meiner Wenigkeit“ entlarvt und „entartete Heimatliebe“ und Nationalismus einer scharfen Kritik unterzieht. Dafür fügt er collageartig den Inhalt eines Festplakats, das „Einladungsschreiben zur Kgl. priv. Arcoschießerei“ sowie Zeitungsausschnitte aneinander und kommentiert sie:

Ich sprach mit vielen Bürgern des Marktes M. Jeder, aber auch jeder, Lehrer, Bauer, Arzt, Briefträger, Wirt, Arbeiter, Student bestätigte mir, es sei ein grober Unfug. Trotzdem war alles beflaggt, alles jubilierte, die Beteiligung am Schießen war „überaus zahlreich“, die Preisverteilung im „prächtig festlichem Rahmen bei begeisterter Stimmung“, der Tanzsaal überfüllt. Es ist ein grober Unfug.

Dieses sonderbare Schützenfest ist wahrlich kein Zeichen partikularistischer Tendenzen, es ist lediglich ein Produkt sträflich leichtsinniger Gedankenlosigkeit, politischer Wurschtigkeit und Unwissenheit – – das typisch politische Merkmal breiter Schichten des Mittelstandes. […]

Wie heißt es doch in dem Einladungsschreiben zur Kgl. priv. Arcoschießerei? „Möge es uns daher vergönnt sein, eine recht große Zahl froher Schützenbrüder beim 120. Arco-Schießen willkommen zu heißen – –“ Nein! Sagen wir so: Möge es uns daher vergönnt sein, daß wir es möglichst bald erleben, daß kein Deutscher mehr nationale Verbrechen seiner Ahnen als „Tradition“ pflegt, nur um eine „Jubilarscheibe“ gewinnen und Bier saufen zu können![3]

Horváth, dessen Kindheit und Jugend von häufigen Ortswechseln geprägt war und dessen Sozialisation als Städter und Weltbürger jedweder Lokalpatriotismus und Kraftmeierei fremd erschien, blieb Heimat ein leerer Begriff. „Sein Verständnis von ‚Nation‘ ist nicht an ein fest umgrenztes Staatsgebiet, sondern an eine gemeinsame Sprache geknüpft.“[4] In diesem Sinne hebt er das Modellhafte hervor und vermeidet, einen bestimmten Ort in den Blickpunkt zu rücken – er beschreibt die geografische Lage des „sogenannten [sic!] schmucken Markt[es]“ (gemeint ist Murnau) und erwähnt dann doch nur den Anfangsbuchstaben „M“.[5] So ist auch zu verstehen, dass es Horváth weniger um eine Kritik „partikularistischer Tendenzen“ als um eine „von Zeit und Raum unabhängige Charakteristik kleinbürgerlichen Denkens und Handelns“[6] geht: „das typisch politische Merkmal breiter Schichten des Mittelstandes.“



[1] Vgl. Ö. v. H.: Gesammelte Werke. Bd. 11, S. 135: „Ich dachte zuerst an jenen Herrn, der Kurt Eisner ermordet hatte, aber jener konnte es nicht sein, denn da stand ja ausdrücklich: ‚Historisches 120. Arco Schießen am 28. Juli, 3. und 4. August 1929.‘“

[2] Zum Folgenden vgl. Tworek-Müller, Elisabeth (1989): Provinz ist überall, S. 42ff.

[3] Ö. v. H.: Gesammelte Werke. Bd. 11, S. 137f.

[4] Tworek-Müller, Elisabeth (1989): Provinz ist überall, S. 45f.

[5] Ö. v. H.: Gesammelte Werke. Bd. 11, S. 135. Vgl. a. Tworek-Müller, Elisabeth (1989): Provinz ist überall, S. 38ff. („Murnau als Modell“).

[6] Ebda., S. 46.

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Peter Czoik