Vorstadtstenz und Wiesnbraut

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Ch. M. Kamböck: "Ueberhaupts". In: Die Auster I (1903) 19

Auf dem Oktoberfest begegnen sich Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Von der königlichen Familie, Großindustriellen und Berliner Unternehmern über Bauern, Viehhändler, Handwerkersgattinnen und Schreinermeister bis hin zu Dienstmädchen und Steinträgern aus den äußeren Vierteln der Stadt, kommen alle auf der Theresienwiese zusammen. Zwei Figuren, die sich in München immer wieder ausmachen lassen, sind der Vorstadtstenz und die Wiesnbraut. Zum 200jährigen Oktoberfest-Jubiläum präsentiert die Monacensia eine literarische Ausstellung zu den beiden Charakteren. Während die historischen Wurzeln dieser Typen im Milieu der Münchner Vorstädte zu finden sind, werden im Rausch des Festes auch die anderen Besucherinnen und Besucher zu Stenzen und Wiesnbräuten.

Gefährlich ist die Wies'nmaid,
Wenn sie nach einem Opfer schreit.
Der, den sie sich hat auserkoren,
der arme Tropf, er ist verloren.
Halb zieht's ihn hin, halb sinkt er hin
und ist im Fangnetz dann gleich drin.
Hat gar der Ärmste viel Moneten,
um stilles Beileid wird gebeten.
Mit süßem, sanften Liebeswort
schleppt sie ihn durch die Wies'n fort.
Doch vorher will man doch noch scherzen;
Sie geht deshalb mit ihm zum Märzen.
Dann führt's 'n in Bodega 'rein,
da trinken's noch a Flascherl Wein,
und in der Figur-Achterbahn,
Da fährt man, wenn man fahren kann.
Nun aber ist es höchste Zeit
für eine echte Wiesnmaid,
Daß man nach einem Auto ruft,
mit dem nach Hause man verduft't.
Die Wiesnmaid zum Abschied winkt,
ihr Opfer in die Polster sinkt.
Mit Volldampf und im Sturmgebraus
führt d' Wiesnmaid ihr Opfer z' Haus.
Der arme Mensch ruft noch: „Juchhei!“
Wir wünschen nur: „Gott steh ihm bei!“

Heinrich Scheiber: Das Oktoberfest und die landwirtschaftliche Ausstellung München. Scheiber Verlag, München 1911

 

Franz und Paula fanden Gesellschaft in der großen Halle vom Schottenhammel: Herrn Otto Jüngst und Frau Resi Schegerer. Etwas später kam ein Freund von Jüngst dazu, ein Maler Nottebohm aus Hamburg. Er stellte die junge Dame, die bei ihm war, als Fräulein Merry vor, ohne einen Familiennahmen anzugeben.Vielleicht war er ihm entfallen; ein Mann von der Waterkant wird sich den Namen Stingelwagner nicht leicht merken. Wozu denn freilich Merry oder Mary gar nicht wohl passte, und eigentlich hieß sie auch Zenta und der Name lag ihr. Zenta Stingelwagner, dem Äußern und etlichen in unbewachten Momenten sich verratenden Manieren nach aus dem östlichen München, aus dem Viertel der ruhmreichen Erinnerungen – Weißenburg, Wörth, Orleans.

Ludwig Thoma: Münchnerinnen. Langen Müller Verlag, München 1919

 

In einem Brief, den die junge Zenzl an ihre Freundin Theres schreibt, schildert Oskar Maria Graf das Schicksal einer Wiesnbraut nach dem Wiesnrausch.

ich mus kleuch weunnen wens ich Dir mideile waßfir Ein schlächder Patsi der wigl isd un tas ich jäsd in der hofnung pin un weus garr nüchd wer der vadern ist, weull mich der wigl so auskschmürbd had in ogdoberväst in Minken, der gans schlähhde sauhami. Er hatt iberhaups keunen garakter nüchd unjäsd pin ich in der Hofnung aper nüchd fon im un sagd er, tas get in nichz an un vadern is er garrni nüchd.

Oskar Maria Graf: Das bayrische Dekameron. Verlag für Kulturforschung, Berlin 1928

 

Alois Hönle begann seine Laufbahn als Volkssänger im Ensemble von Papa Geis und wechselte später ins Apollo Theater, dessen Leitung er 1906 übernahm. Zusammen mit dem Humoristen August Junker entwickelte Hönle die Figuren Lucki und Cenzi, einen Vorstadtstenz aus Giesing und seine Braut aus Haidhausen. Auch Lucki führt seine Cenzi aufs Oktoberfest.

Wie bereits der Titel besagt, ist unter den eifrigen Wiesenbesuchern auch der „Lucki“ und die „Cenzi“ zu finden. Fals der liebe Leser nicht wissen sollte, wer die beiden sind, soll ihm folgende kurzgefaßte Charakterisierung als Aufklärung dienen. – Der „Lucki“ – ein Sproß unverfälschter Münchner Vorstadt-Rasse mit eigener Sprache und Sitte. Stand: Gelegenheitsarbeiter ohne Arbeitsgelegenheit. Besondere Kennzeichen: Hände in der Tasche, vorgebeugter Oberkörper, unnachahmlicher schwebender Gang mit nach auswärts gespreizten Beinen, flache Stirne mit hereingedrückter Mütze, im Munde eine „Spreitz'n“, teilweise harmlos, teilweise einigemale vorbestraft!

Alois Hönle: Lucki Baron von Giesing, Herr auf Steintrag und Schaufelhamm und seine Braut Baronesse Cenzi von Haidhausen, Edle von Mörtel und Stadelheim. Emil-Stahl Verlag, München 1920

 

Oktoberwiese. Tschimbumm und Trara...
Der Michel stiefelt reihauf und ab. Schlacksig und verdöst. Er hat eine Kotzwut, der Michel. Weil ihn die Zenta versetzt hat, das falsche Luder! Wut auf Menschen und Viecher und den ganzen Klimbim... Da springt ihn von einer Wurfbude ein Plakat an:
„Staunenswerte Abnormität!
!!Unser Parlament! Unsere Regierung!!
Erstklassige Künstlerköpfe!
!!Auf jeden Volltreffer ein Preis!!
Zehn Würfe nur 1 Mark.“
Der Michel schiebt sich breitspurig an den Stand. Schmeißen! Das paßt ihm grad in den Kram! Irgendwas schmeißen. Nach irgendwem. Was und wer ist ihm wurscht. Bloß schmeißen!

Caren: Michel an der Wurfbude. In: Münchner Jugend 1929, Nr. 40

 

19. September 1932

9.00 Uhr Babs getroffen. Mit ihm zur Wiese. Wachsfiguren, 500 Jahre altes Krokodil [...] Achterbahn, elektrisches Auto, Babs reitend, hohe Schaukel usw. Dann einen Willi angesprochen (Bonzo-Typ).

1.Oktober 1932

Auf die Wiese (zu dritt.) Huhn beim Ammer. Francesco getroffen. Einmal „Schlange“ gefahren. E. [Erika] ins Theater gebracht. Ihr beim Schminken zugesehen. Der Alte sie photographierend. Mit ihm weg.

Klaus Mann: Tagebücher 1931-1933. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1989

 

Unter einer Wiesenbraut versteht man in München ein Fräulein, das man an einem Oktoberfestbesuch kennen lernt, und zu dem die Bande der Sympathie je nach Veranlagung und Umständen mehr oder weniger intimer geschlungen werden. Meistens wird die Wiesenbraut vom Standpunkte des Herrn aus gesehen - aber die Gefühle samt der Sehnsucht, die in der Wiesenbraut leben, werden selten respektiert. Oft will die Wiesenbraut nur lustig sein und sonst nichts; häufig will sie sonst auch noch etwas; nie aber denkt sie momentan materiell. Aber in der Wiesenbraut wohnt häufig die Sehnsucht, dass es immer ein Oktoberfest geben soll; [...] Die Wiesenbraut verlässt die Ihren, verlässt ihr Milljöh - geht mit Herren, die sie nicht kennt, interessiert sich wenig für den Charakter, mehr für die Vergnügungen. Die Wiesenbraut denkt nicht an den Tod.

Ödön von Horváth: Exposé zu seinem Volksstück Kasimir und Karoline 1932. In: Klaus Kastberger; Kerstin Reimann (Hg.): Wiener Ausgabe sämtlicher Werke. Band 4. De Gruyter Verlag, Berlin u.a. 2009

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek