Nadeschda Konstantiovna Krupskaja über München II

Wladimir Iljitsch war ebenso wie Martow und Potressow mit legalem Pass ins Ausland gereist. In München beschlossen sie aber, mit fremden Pässen und abseits von der russischen Kolonie zu leben, um die aus Russland eintreffenden Genossen nicht zu gefährden und illegale Literatur in Koffern, Briefen usw. leichter nach Russland übersenden zu können. Als ich nach München kam, lebte Wladimir Iljitsch bei dem bereits genannten Rittmeyer, ohne bei der Polizei gemeldet zu sein, und nannte sich Meyer ... Nach meiner Ankunft zogen wir zu einer deutschen Arbeiterfamilie. Die Familie war recht groß, sie bestand aus sechs Personen. Sie hatten nur eine Küche und eine kleine Kammer. Aber es herrschte überall peinliche Sauberkeit, die Kinder waren sehr sauber und gut erzogen. Ich beschloss, Wladimir Iljitsch mit häuslicher Kost zu versorgen, und begann selber zu kochen. Ich kochte in der Küche der Wirtsleute, musste aber alles in unserem Zimmer zubereiten. Ich bemühte mich, dabei so wenig Geräusch wie möglich zu verursachen, denn Wladimir Iljitsch schrieb damals schon an seiner Broschüre Was tun?. Wenn er etwas schrieb, ging er gewöhnlich mit raschen Schritten im Zimmer auf und ab und sprach leise vor sich hin, was er schreiben wollte ... Oft machten wir Ausflüge in die Umgebung Münchens, meist in entlegene Orte, wo es weniger Menschen gab. Nach einem Monat bezogen wir eine eigene Wohnung in einem der zahlreichen großen Neubauten in der Münchner Vorstadt Schwabing, schafften uns „Mobiliar“ an (das wir bei der Abreise für insgesamt zwölf Mark wieder verkauften) und lebten wieder auf unsere Art.

Nadeschda Konstantinovna Krupskaja, Lenins Frau, über die Zeit in München, 1901/02 (Zit. aus: Lenin in München. Dokumentation und Bericht von Friedrich Hitzer. Hg. v. der Bayerischen Gesellschaft zur Förderung der Beziehung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion e.V. München, Frankfurt a. Main 1977, S. 460)

 

Nadeschda Konstantiovna Krupskaja (1869-1939), russische Politikerin; Aufenthalt in München: 1900 bis 1902

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek