Rainer Maria Rilke über München IV

Gleich mal zunächst: „Das Luitpold“. Das ist doch etwas. Man setzt sich zu einem der kleinen Marmortischchen und legt einen Stoß Zeitungen neben sich und sieht gleich furchtbar beschäftigt aus. Dann kommt das Fräulein in Schwarz und gießt so im Vorübergehen die Tasse mit dem dünnen Kaffee voll, o Gott, so voll, dass man sich gar nicht traut, auch noch den Zucker hineinzuwerfen. Dabei sagt man: „mittel“ oder „schwarz“, und es wird ganz nach Wunsch und Wink: „mittel“ oder „schwarz“. Zum Überfluss sagt man doch noch etwas Scherzhaftes, wenn man es gerade bei der Hand hat, und dann lächelt die Minna oder Bertha etwas müde ins Unbestimmte hinein und schwenkt die Nickelkannen in der Rechten her und hin ... Das sind so kleine Zufälle, die den jungen Menschen tiefer berühren, als er selber meint. Sie geben ihm das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, gleichsam die Sitten eines fernen Landes fortzuleben unter allen diesen Menschen, die sich mit einem Lächeln und im Vorübergehen verstehen. Er möchte so gern einer von ihnen sein, irgendeiner im Strome, und dann und wann glaubt er es fest.

Rainer Maria Rilke, Ewald Tragy, 1898 (Zit. aus: Rainer Maria Rilke: Werke in drei Bänden. Bd. 3. Frankfurt a. Main 1966, S. 109)

 

Rainer Maria Rilke (1875-1926), österreichischer Dichter; Aufenthalt in München: zwischen 1896 und 1919

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek