Dan Diner über München

Das „München“ der jüdischen Erinnerung post 1945 fi­guriert als Zeit. Als eine Zeit des Übergangs zwischen den Welten; genaugenommen zwischen zwei Phasen des Danach – der Phase nach dem Ende des Schreckens und der Phase des auf ihn folgenden Provisoriums. Dazwischen stauen sich die Spuren ganzer Zeitschichten und der ihnen affinen historischen Gedächtnisräume. Und sie stauen sich vor allem in den aller Insignien deutscher“ Souveränität enthobenen Gebieten der amerikanischen Besatzungszone in Bayern und Österreich. Einer End­moräne gleich lagerten sich dort osteuropäische jüdische Zeiterfahrungen ab. Es handelte sich wesentlich um Erlebniswelten von Juden, die dem geographisch-kulturellen Grenzraum zwischen den historischen Gebieten Polens und Russlands entstammten – dem Raum zwischen Ostsee und Schwarzem Meer. In Panik flohen sie Westen, in Richtung der amerikanischen Besatzungszone auf deutschem Boden – nach München. Vom Zwischenort der Zwischenzeit, von München aus drängte es sie weiter ... Der spätere Begründer Israels, Ben Gurion war eigens nach München in der Absicht gereist, die jüdische Flüchtlingsfrage in Europa mit dem zionistischen Anliegen eines hebräischen Territorialstaates in Palästina zu verknüpfen. Es ist keineswegs übertrieben, in den DPs den unmittelbaren politischen Hebel zur Staatsgründung Israels zu erkennen. So gesehen stand die Wiege des im Mittleren Osten geborenen jüdischen Staates in gewissem Sinne eigentlich in Bayern.

Dan Diner, Erinnerungsort München, März 2007 (Zit. aus: Dan Diner: Erinnerungsort München. Spuren der Zeitschichten. Aus dem Vortrag zur Eröffnung des Jüdischen Museums. In: Süddeutsche Zeitung. Nr. 69. 23. März 2007, S. 15)

 

Dan Diner (geb. 1946), deutscher Historiker und politischer Schriftsteller; gebürtiger Münchner

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek