Von der Gasse zum Boulevard

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Straßenszene in den fünfziger Jahren (Verlag und Bildarchiv Sebastian Winkler)

Der Schriftsteller und Verleger Friedrich Nicolai kam auf seiner Reise durch Deutschland und die Schweiz 1781 nach München. Seine Eindrücke beim Einkaufen und Umherschlendern hielt er in seinem kulturgeschichtlich äußerst aufschlussreichen Reisebericht fest. „Die Pflasterung ist ziemlich gut, und die Straßen rein. Es wird aber auch in München wenig gefahren.“ Im Vergleich zu Wien emp­fand er die Stadt als tot. Doch München war auf dem Weg zur Groß­stadt. Waren es 1771 noch 31 000 Einwohner, so waren es dreißig Jahre später schon 42 450. Um die Übersicht in der Stadt zu bewahren, wurden 1770 die 1213 Häuser mit Hausnummern versehen, dreißig Jahre später bekam jede Straße ein Straßenschild. Beklagte sich Friedrich Nicolai noch darüber, dass München nur im Winter nachts beleuchtet wäre, so brannten bereits ein Jahr später die Laternen das ganze Jahr über. Im Vergleich zu anderen Städten vermisste Nicolai eine klare städtebauliche Planung. Vielleicht hätten ihn die breit angelegten Prachtstraßen Ludwigs I. und Max' II. meh­rere Jahrzehnte später entschädigt.

Seit 1861 verkehrte zwischen dem Zentralbahnhof und dem Maria­hilfplatz der „Stadtomnibus“, das erste Münchner Verkehrsmittel mit Fahrplan. Das Pferdegespann erzürnte den französischen Literaten Victor Tissot. „Man kann sich nichts Elenderes und Unreinli­cheres vorstellen als einen Stadtomnibus“, schimpfte er. Offensicht­lich hatte er den Schock der deutschen Reichsgründung im Spie­gelsaal zu Versailles noch nicht ganz verdaut, als er in den 1870er Jahren München besuchte. Im Vergleich zu Paris war für ihn Mün­chen mit seinen inzwischen knapp 170 000 Einwohnern ein verschlafenes Nest. Den tschechischen Komponisten Bedrich Smetana, der wegen Richard Wagners Opern nach München kam, erstaunten die vielen „Fremden“ in der Stadt. Statistiken belegen, dass München 1878 bereits 220 000 Einwohner hatte, „davon 5200 Preußen und 9480 übrige Ausländer“. Seit 1875 konnte man sich eine der 71 Münchner Zeitungen oder Zeitschriften am Kiosk kaufen und mit Mark bezahlen. Der erste Kiosk stand am Stachus. Postkarten und Briefe warf man jetzt in eisernen Briefkästen ein, die auf der Straße aufgestellt wurden. 1879 zog der Eishändler Sarcletti zum ersten Mal mit seinem Eiswagerl durch die Straßen und verkaufte „Gefrorenes“.

Links: Eingang in die untere Fleischbank, um 1870 (Münchner Stadtmuseum). Mitte: Münchner Wirtsgarten, 1841 (Münchner Stadtmuseum). Rechts: Städtischer Triebwagen 564, Baujahr 1925-26 (Stadtarchiv München).

München glich zunehmend einem Rummelplatz. Seit 1862 zierten die ersten Plakattafeln das Alte Rathaus, 1880 wurde die erste Plakatsäule aufgestellt, zehn Jahre später tauchte mit dem „Crystall-Plakat-Kiosk“ am Maximiliansplatz die erste elektrische Nacht­reklame auf. 1893 wurden die Hauptstraßen der Innenstadt mit 280 Bogenlampen elektrisch beleuchtet. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren 530 Straßenkilometer mit 12 060 Gaslaternen, 238 Petroleumleuchten und 2768 Elektrolampen illuminiert. München ertrank zunehmend in einem Lichtermeer. Friedrich Nicolai hätte hundert Jahre nach seinem Besuch die Stadt nicht wiedererkannt.

Der französische Schriftsteller Jean Giraudoux nutzte 1905/06 die Fahrten mit der elektrisch betriebenen Trambahn, um die aus- und einsteigenden Fahrgäste aller Schichten genauestens zu studieren. Es faszinierte ihn, was sich in dieser kleinen Welt eines Trieb­wagens so alles erleben ließ. Damals schaute die Tram bereits auf eine dreißigjährige Geschichte zurück. Begonnen hatte alles im Oktober 1876 mit einer Schienen-Pferdebahn. Schon ein Jahr später verband diese den Zentralbahnhof mit dem nahe gelegenen Vorort Schwabing. Allein im Juli 1879 beförderte die Pferde-Tram 534 510 Personen. Dafür mussten bis zu 758 Pferde angeschafft wer­den. 1883 wurden die Pferdestärken durch Dampfkraft ersetzt. Die erste Dampf-Trambahn Münchens brachte Sommerfrischler mit einer Geschwindigkeit von acht Stundenkilometern vom Stiglmaierplatz zum Nymphenburger Park. Die erste elektrisch betriebene Straßenbahn verkehrte ab 1895 vom Färbergraben zum Isartalbahnhof. Um 1900 gab es bereits 25 elektrische Straßenbah­nen – sehr zum Unwillen des Prinzregenten Luitpold, der zumindest die unmittelbare Umgebung der Residenz nicht von Oberleitungen verschandelt wissen wollte. Erst 1906 genehmigte er die elektri­schen Drähte vor seiner Haustür. 1880 fuhren die ersten Hochräder durch die Stadt, 1892 die ersten Damenfahrräder. Als der griechische Schriftsteller Zacharias Papantoniou 1913 nach München kam, war er sehr erstaunt, wie freizügig und selbstbewusst die Münchne­rinnen mit dem Fahrrad durch die Stadt kurvten.

Links: Auf dem Viktualienmarkt, um 1910 (Münchner Stadtmuseum). Mitte: Städtischer Omnibus Mercedes, Baujahr 1934 (Stadtarchiv München). Rechts: Wildschützenkapelle München, Gastspiel in Frankfurt, August 1924 (Münchner Stadtmuseum).

Immer mehr Automobile bestimmten das Stadtbild. 1899 wurden in München die ersten Führerscheine ausgestellt. 25 Automobilbesitzer hatten nun eine Fahrerlaubnis. Der rasch zunehmende Stadtverkehr erforderte feste Straßen, und so erhielt als Erste die Ludwigstraße 1901 einen Asphaltbelag. Doch das hohe Tempo for­derte auch seine Opfer. Bereits 1910 kamen in München bei 182 Autounfällen elf Menschen zu Tode, bei 403 Unfällen der Trambahn starben im selben Jahr sechzehn Menschen.

1911 war der amerikanisch-englische Schriftsteller T.S. Eliot für kurze Zeit in München. Er wohnte in der Pension „Bürger“ in der Luisenstraße 50. Wenn er der Tram, den Fahrrädern und den Autos entkommen wollte, musste er über den Karolinenplatz die Briennerstraße entlang zum Hofgarten gehen. In dieser Oase war die Zeit stehen geblieben. Unter den Kastanienbäumen und Arkaden holte er sich Inspirationen für sein zehn Jahre später entstandenes Gedicht The Waste Land.

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek

Sekundärliteratur:

Tworek, Elisabeth (2008): „… und dazwischen ein schöner Rausch“. Dichter und Künstler aus aller Welt in München. Mit zahlreichen Farb- und Schwarzweißabbildungen. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, S. 51-55.