Die Konkurrenz zweier Großschriftsteller

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Johann Lorenz Kreul (1764-1840): Kaspar Hauser, Pastell ca. 1830

Wassermann teilte aber offenbar auch herzlich gerne Kritik aus, konnte aber auch, wenn sie von Freunden kam, einiges einstecken. So notierte Schnitzler in sein Tagebuch: „Er ist und bleibt ein großes Talent und ein schwindelhaft-unreinliches leichtmacherisches Subjekt. Auf dem Weg auf den Schlern erklärte ich ihm, dass er eine Verbrechernatur sei. Ich hab ihm geschmeichelt.“

Mit seinem übersteigerten Selbstwertgefühl verärgerte Wassermann zuweilen die Freunde, doch diese erwiesen sich als großzügig, selten nachtragend und ließen den Kontakt nicht abbrechen. Die Auseinandersetzungen zwischen Wassermann und den anderen rissen offenbar keine tiefen Wunden, hinterließen höchstens kleine Blessuren, die aber schnell verheilten. Offenbar wussten alle Beteiligten, was sie aneinander hatten, und wollten sich dieses Glück nicht durch kleinliche Empfindlichkeiten trüben lassen. Hier wurde heiß diskutiert und viel gelacht, über Kollegen getuschelt und Neuigkeiten ausgetauscht, es wurden eigene Texte zur freimütigen Kritik gestellt, Vorschläge und Empfehlungen ausgesprochen und sich gegenseitig gestützt und getröstet – abgesehen von den kleinen sportlichen Betätigungen, denen Männer in diesem Alter zu jener Zeit gerne gemeinsam nachgingen. Man vertraute einander, kannte weder Angst noch Hass, lernte voneinander und war genauso streng wie ehrlich miteinander bei der Beurteilung der eigenen Texte.

Auch im Verhältnis zu Thomas Mann spielten Wassermanns Charakterzüge eine gewisse Rolle, wie im Juli 1906, als es sich Mann nicht verkneifen konnte, Samuel Fischer folgende Zeilen zu schreiben:

Grüßen Sie Wassermann! Seit acht Wochen oder länger will ich ihm schreiben und beschäftige mich auf diese Weise mehr mit ihm, als wenn ich ihm kurzer Hand geschrieben und ihn dann vergessen hätte. Aber das kann er natürlich nicht zu schätzen wissen. Übrigens ist meine eigentliche Meinung, dass ebenso gut auch er einmal den Anfang machen könnte mit dem Schreiben, ohne es für Raub zu achten. Wieso denn wohl? Ich bin doch schließlich auch ein beliebter Erzähler, potz tausend noch mal!

Trotz dieser Klage traten die beiden Autoren 1903 mehrfach mit gemeinschaftlichen Lesungen auf; das Berliner Tagblatt mokierte sich über „ein sehr literarisches Vergnügen [...] ein wenig langweilig. [...] Das Publikum schien etwas enttäuscht, [...] nur eine Dame war voll befriedigt“.

Seit 1904 hatte Wassermann am Roman Caspar Hauser gearbeitet, ihn dann aber, nachdem er den Anfang des Romans vielfach umgeschrieben hatte, erst mal zur Seite gelegt. Nun, im Juni 1906, las er die ersten drei Kapitel Hofmannsthal vor, und dieser „hatte einen gewaltigen Eindruck und ich sah ihn nie so erregt“. Im März 1907 sollte Wassermann den Roman dann vollenden. Im März 1907 schloss er den Roman ab und las daraus wiederum Hofmannsthal vor, der seinen positiven Eindruck von den ersten Kapiteln nun bestätigt sah. Auch Wassermann atmete erstmal kräftig durch nach all den vielen Umarbeitungen und Änderungen, aber er war überaus zufrieden mit dem, was ihm mit dem Caspar Hauser gelungen war.

Für Wassermann stellte Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens zum einen eine spürbare Weiterentwicklung seiner literarischen Möglichkeiten dar, zum anderen war es für ihn sein erster großer Beitrag zur deutschen Literatur. Mit diesem Buch wollte er gleichsam die Eintrittskarte zur deutschen Kultur und Gesellschaft lösen, von ihm erhoffte er sich endlich die lang ersehnte Akzeptanz innerhalb der deutschen Autorenschaft.

Doch weit gefehlt. Wassermann schrieb später in seiner Autobiografie:

Ich kann nicht leugnen, dass ich an die Veröffentlichung des Buches ungewöhnliche Erwartungen knüpfte [...] Ich bildete mir ein, den Deutschen ein wesentlich deutsches Buch gegeben zu haben, wie aus der Seele des Volkes heraus; ich bildete mir ein, da ein Jude es geschaffen, den Beweis geliefert zu haben, dass ein Jude nicht durch Beschluss und Gelegenheit, sondern auch durch inneres Sein die Zugehörigkeit erhärten, das Vorurteil der Fremdheit besiegen könne. Aber in dieser Erwartung wurde ich getäuscht. Zunächst erhob sich ein übler Zeitungsstreit um die historische Person Caspar Hausers, und ein Platzregen von hämischen Beschimpfungen und dünkelhaften Zurechtweisungen ging über mich nieder, den man des Verbrechens bezichtigte, die alte Lügenfabel von fürstlicher Abkunft des Findlings wieder aufgewärmt und zum Vergnügen eines sensationshungrigen Publikums serviert zu haben.

Es gab aber auch prominente Fürsprecher wie Thomas Mann, der in den Münchner Neuesten Nachrichten den Roman differenziert und lobend besprach:

Kaum wüsste ich ein neues Buch, das wie dieses, trotz seiner pessimistischen Verhülltheit, so harmonisch wirkte, so sicher, würdig und kunstvoll ruhig, so wohl gelungen. Das muss [...] daran liegen, dass Stoff und Begabung einander hier aufs glücklichste gefunden haben, oder vielmehr – da diese Wendung die Sache zu leicht nimmt – daran, dass hier in jahrelangem Kunstfleiß ein Vortragsstil in Hinsicht auf eine große, entscheidende Aufgabe geübt und herangebildet wurde, der sich nun an eben dieser Aufgabe glänzend bewährt hat. [...] Hier ist der Stil aus dem Gegenstande geboren, der romantische Vortragston wird zum Zeitgeist, die Personen reden, wie sie reden müssen, und wenn der Verfasser in ihrem Geiste redet, so ist er eben darin nicht von 1830, sondern modern. Er ist es nicht immer in hinlänglichem Grade. Es gibt Stellen, die altmodisch blass wirken, denn der hundertjährige Romanton versagt die Wirkung, sobald er nicht von modernem Geist aufgefrischt und raffiniert erscheint. [...] Ja, dieser Stil hat Gefahren, und dass der Verfasser ihnen nicht entging, beruht auf einem Mangel, der bisher der Mangel überhaupt des Wassermann'schen Talentes war: dem Mangel an Humor. Bisher, – denn in seinem neuen Buch überrascht uns der Dichter mit einer humoristischen Figur des vornehmen Stiles. [...] Und welches Können auch sonst, überall, im Historischen, Physiognomischen, Seelischen! Wie ist die Stimmung der vormärzlichen deutschen Kleinstadt getroffen [...]. In der Tat scheint mir Wassermanns bester Wert in seinem ahnungsvollen, dichterisch dunklen Weltempfinden zu beruhen.

Verfasst von: Dr. Thomas Kraft