Tiny Stricker und das Indienbild der 68er

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Concertgebouw Amsterdam, 1. September 1967. Stehend, v.l.n.r.: Michael Cooper, Mick Jagger, eine schwangere Marianne Faithfull, Shepard Sherbell, Brian Jones. Sitzend: Maharishi Mahesh Yogi. Foto: Ben Merk (ANEFO)

Indien wird auch für viele Vertreter der 68er-Generation zum Sehnsuchtsort. Es sind die Baby-Boomer, die nach dem wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegsjahre mit vielen Idealen ihrer Gesellschaft brechen. Wie schon zuvor die Romantiker*innen und manche Autor*innen zu Beginn des 20. Jahrhunderts träumen sie sich nach Indien, dem Ort, der ihnen als spirituelles Antidot zum Materialismus ihrer Elterngeneration erscheint. Ein Aufbegehren gegen die vorherrschende Ideologie, gepaart mit westlichem Individualismus, lässt sie in Richtung Osten blicken. In Sachen Drogenkultur, Pazifismus, Kommunen (samt Guru), Liebe, Alternativmedizin, Yoga und Mode sieht man sich vom Subkontinent inspiriert. Wenngleich sich auch manche Europäer*innen auf den Hippie Trail machen, manch eine*r vielleicht mit dem Love Bus Richtung Indischer Ozean ruckelt, schlägt sich der indische Einfluss vor allem auf die angelsächsische Kultur nieder. Neben der Musik (v.a. John Coltrane und The Beatles) wirkt sie hier auf die Literatur, vornehmlich die Beat Generation. Zuvorderst der Buddhismus und die Hare-Krishna-Bewegung finden ihren Weg zu Autor*innen wie Jack Kerouac (1922-1969) (The Dharma Bums, 1958) und Allen Ginsberg (1926-1997).

Einer der wenigen deutschsprachigen Autor*innen der Gegenkultur, der sich dem Thema Indien annimmt, ist Heinrich „Tiny“ Stricker (*1949). Geboren in Gundelfingen an der Donau, verbringt er viel Zeit im Ausland, arbeitet in Bayern als Lehrer, später beim Goethe-Institut, und lebt heute in München. Bereits der doppeldeutige Titel seines Buches Trip Generation verrät den Einfluss der Beat Generation auf den damals 20-jährigen Autor. Denn wie Kerouacs Unterwegs (1957) handelt der Text von einem Road Trip, bei Stricker von der Türkei über Iran nach Pakistan, Indien und Bangladesch. Und wenn die Lyrik die Prosa verdrängt, erinnert Strickers Dichtung gelegentlich gar an Ginsbergs Gedichte wie Howl (1955). Gleich diesen Autoren richtet sich sein Schreiben gegen die Hegemonie. Nicht nur die tatsächliche, sondern auch die literarische, indem Form und Inhalt gegen überkommene Konventionen aufbegehren. Drogenexzesse, Homoerotik, sexuelle Ausschweifung werden wie auf einem Trip in einem atemlosen, jazzigen Text festgehalten, in dem Bild auf Bild folgt, eine Referenz die nächste jagt. Es ist Pop-Literatur, die mit Comic-Elementen experimentiert, Prosa in Lyrik und wieder zurück springen lässt, die Majuskel verwendet, wenn es ihr beliebt, die abbricht, wenn ihr danach ist.

Obwohl man annehmen könnte, dass Strickers Indienbild als Vertreter der 68er-Generation exotistisch anmuten müsste, bleibt es eher eine schemenhafte Folie, die dazu dient, die Selbsterfahrung und literarischen Experimente zu akzentuieren. Man könnte es das Hintergrundbild Indien nennen, das da aus dem Schall und Rauch emporsteigt. Viele der bereits genannten Texte werfen das Ich durch die Begegnung mit dem Anderen (Indien) wieder zurück auf sich. Stricker braucht das Andere dafür nicht wirklich. Man würde im Übrigen nicht fehlgehen, das Bild an dieser oder jener Stelle als das überzeichnete Indienbild zu betiteln. Oft beabsichtigen Comic-Elemente und Übertreibungen nichts anderes. Es begegnen einem Typen, die auf ihrer Indiensuche zu weit „getrippt“ sind. (Tiny Stricker: Trip Generation. Hamburg 1972, S. 39.) Greta Garbo wird zur 20. Inkarnation des Gottes Kṛṣṇa, Buddha zu einem „Indianer des Mißtrauens“. (Ebd., S. 109.) Diese Extreme – ob Kulisse im Hintergrund oder Überzeichnung im Vordergrund – bestehen dennoch aus einer Sehnsucht, etwas Idealisierendem. Indien als „der kleine blasse Garten der Freiheit. Der Rückfall in die Seligkeit der lebendigen Geburt [...] die Träne, die das Auge zerreißt [...], die Nähe und Geborgenheit des Morgenröte-Horizonts.“ (Ebd., S. 117.)

Verfasst von: Dr. Krisha Kops