Indien als Reiseziel und spiritueller Zufluchtsort

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Taj Mahal, 2004

Dass das Indienbild der meisten Schriftsteller*innen allein durch die migrierende Literatur und die politischen Umstände bedingt ist, ändert sich gegen Ende des 19. und mit Anfang des 20. Jahrhunderts. Einmal mehr ist der Kontext für die Veränderung der literarischen Landschaft verantwortlich. Diesmal sind es unter anderem die vereinfachten Reisebedingungen, die zur zweiten Welle der Indienrezeption führen. Bereits 1869 verkürzt die Eröffnung des Suezkanals die Reisezeit über See nach Indien signifikant. Nicht länger muss man den afrikanischen Kontinent umsegeln, da der 164 Kilometer lange Kanal den Nordatlantik direkt mit dem Indischen Ozean verbindet. Hinzu kommt, dass Pauschalreisen immer mehr Anklang finden. Anfang des 20. Jahrhunderts findet man über 100 Anbieter solcher Reisen in Deutschland. Thomas Cook (1808-1892) hatte bereits 1841 in England die erste Pauschalreise veranstaltet, die er in den folgenden Jahrzehnten bis hin zu Weltreisen ausbaute. Dies wird begünstigt durch Erfindungen, die das Reisen zu See und Land vereinfachen und beschleunigen.

Die Verbindung zwischen Deutschland und Indien hält sich zu dieser Zeit auch auf andere Weise aufrecht. In Indien sorgen dafür Missionare, politische Repräsentanzen und Handelsinteressen, die allerdings zumeist von britischen Kolonialherren zunichte gemacht werden. In Deutschland sind es neben den Indologen vor allem die Besuche großer indischer Persönlichkeiten, die das Interesse wecken. Neben dem Mönch Vivekananda (1863-1902) – der bereits drei Jahre nach seinem ruhmreichen Auftritt beim Weltparlament der Religionen 1893 Deutschland besuchte – ist es der (erste asiatische) Nobelpreisträger Rabindranath Tagore (1861-1941), der den deutschsprachigen Raum mehrmals bereist (1921, 1926 und 1930) und sich mit den hiesigen Intellektuellen wie Schriftsteller Stefan Zweig (1881-1942) und Philosoph Hermann Keyserling (1880-1946) austauscht.

Darüber hinaus ist es der angebliche „Untergang des Abendlandes“ (wie es der Philosoph Oswald Spengler (1880-1936) in seinem Werk betitelt), der die Deutschen nicht selten im Subkontinent nach Lösungen, Antworten und Neuem trachten lässt. Diese Sehnsucht wird durch den Ersten Weltkrieg intensiviert. In ihm kulminiert die zunehmende, sich bereits vorher bahnbrechende Technologisierung und Verwissenschaftlichung für viele in einer Katastrophe. Darwinismus und Liberalisierung tun ihr übriges, um viele Menschen von ihrem herkömmlichen Glauben abkommen zu lassen oder ihn zumindest zu hinterfragen. In einer Welt, in der Gott tot ist, oder zumindest um das Überleben kämpft, in der materieller Fortschritt unaufhaltsam davondampft, sehnt man sich nach einer spirituellen Heimat, etwas Ursprünglichem, ähnlich wie man es bereits aus der Romantik kennt. Diesen damals wie heute existierenden Eskapismus namens „Asiomanie“ erklärt sich der Philosoph Peter Sloterdijk (*1947) folgendermaßen:

Indem sich der Westen in einen versunkenen Osten hineinträgt und eine asiatische Antike als maßgebliches Kulturmodell des gegenwärtigen Lebens heraufbeschwört, sucht er in einer fremden Vergangenheit nach Möglichkeiten einer eigenen Zukunft.

(Peter Sloterdijk: Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik. Frankfurt a.M. 1989, S. 86.)

Dass es einen in die Fremde zieht, um sich selbst zu finden, ist nicht allein ein typisches Motiv der abendländischen Literatur, sondern auch eines der traditionell indischen, dort, wo man sich immer wieder aus dem sicheren Königreich in die Ferne begibt, in die Berge oder unsicheren Wälder. Die Sehnsucht der deutschsprachigen Literat*innen bekundet allein die Themenwahl. Zumeist steht nicht das moderne Indien im Vordergrund. Es dreht sich überwiegend um das vergangene Indien der Krieger, Könige und Priester.

Verfasst von: Dr. Krisha Kops

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Erster asiatischer Nobelpreisträger: Rabindranath Tagore, 1909.