Indienbilder in der deutschen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts

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Robert Smith: "Inside the Main Entrance of the Purana Qila, Delhi", Ölgemälde 1823

Indienbilder in der Vormoderne und im 18./19. Jahrhundert

Indien polarisiert. Menschen, die den Subkontinent bereisen, berichten für gewöhnlich mit absoluter Begeisterung oder Entsetzen. Dazwischen passiert nicht viel. Kein Es-kommt-darauf-an, kein Je-nachdem, kein Einerseits-andererseits. Ähnlich verhält es sich, wenn man die Rezeption Indiens im deutschsprachigen Raum betrachtet. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts schreibt der Frühromantiker Friedrich Schlegel (1772-1829) voller Überschwänglichkeit: „Welche neue Quelle von Poesie könnte uns aus Indien fließen [...]. Im Orient müssen wir das höchste Romantische suchen, d.h. das tiefste und innigste Leben der Fantasie“. (Friedrich Schlegel: Charakteristiken und Kritiken 1. München 1967, S. 319f. Dieses Zitat erstreckt sich im Original teils in die Fußnote.)

In einem vergleichbaren Ton verlautbart der in Bayern geborene Jean Paul (1763-1825):

Morgenland, Morgenland! auch nach deinen Auen neigte sich sonst meine Seele, wie Bäume nach Osten: – „Ach! wie muß es da sein, wo die Sonne aufgeht,“ – dachte ich; und als ich mit meiner Mutter nach Pohlen [sic!] reisete und endlich in das nach Morgen liegende Land, und unter seine Edelleute, Juden und Sklaven trat...

(Jean Paul: Jean Paul's Geist oder Chrestomathie der vorzüglichsten, kräftigsten und gelungensten Stellen aus den sämmtlichen Schriften [2]. Grätz 1821, S. 72.)

In dieser Zeit ist man aufgrund der napoleonischen Herrschaft vor die Frage gestellt, was das eigentlich ist, dieses Deutschland. Unter anderem sucht man dessen Wurzeln mithilfe der indischen Texte und der angeblich besonderen sanskritisch-deutschen Sprachverwandtschaft in Indien. Überdies kompensiert man durch die „geistige Eroberung“, durch die intellektuelle Kolonialisierung, was man auf der physischen Landkarte entbehrt. Dabei stilisiert man das Land zum Traum- und Zauberhaften, zum Fantasievollen, Ursprünglichen, Poetischen, manchmal gar Idealen. Es zeigt sich eine Dialektik, die – obschon Deutschland selbst Indien nicht tatsächlich kolonialisiert – für Europa per se und sein Verhältnis zu den Kolonien typisch ist: Die brutale Realität in den unterdrückten Ländern wird durch eine gleichzeitige Sublimierung der Kultur kompensiert. Indien also als geistige, als seelische Heimat, obwohl keiner der „Indomanen“ das Land jemals zu sehen bekommt. Allein auf dem Papier blickt es einem entgegen. Gerade die Präsenz der britischen Kolonialherren in Indien und die Verbreitung ihrer Übersetzungen indischer Texte bedingen die erste große Rezeptionswelle indischer Kultur im deutschsprachigen Raum.

Neben dem erotischen Liebesgedicht Gītagovinda von Jayadeva (12. Jhdt.) und Kālidāsas (4.-5. Jhdt.) Meghadūta sind es besonders das Mahābhārata-Epos (ca. 4. Jhdt. v. Chr.) und Kālidāsas (Abhijñāna)śākuntalam (eine Theateradaption aus dem Mahābhārata-Epos), die besondere Beachtung erlangen. Größen wie Franz Schubert (1797-1828) und Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) rezipieren (Abhijñāna)śākuntalam. Letzteren, der auch den Begriff „Weltliteratur“ prägen soll, inspiriert es angeblich zum Vorspiel auf dem Theater in Faust I (1808). Und obwohl Goethe Indien gegenüber später eine eher kritische Haltung einnimmt, beflügelt ihn der Subkontinent zu den Balladen Der Gott und die Bajadere (1798) und Paria (1823). Auch Novalis (1772-1801), Karoline von Günderrode (1780-1806), Friedrich Rückert (1788-1866, Die Weisheit des Brahmanen, 1836) und E. T. A. Hoffmann (1776-1822, Der goldne Topf, 1814) lassen sich unter die frühen Rezipient*innen einreihen. Heinrich Heine (1797-1856) ist der vielleicht erste, der dieser Romantisierung in seinen Gedichten mit Ironie begegnet.

Doch schon davor herrscht eine ähnlich verklärte Sicht. Durch den Alexanderroman (bereits 4. Jhdt. v. Chr.) und Fabeln wie das Pañcatantra (ca. 3. Jhdt.) gelangt die Vorstellung des mirakulösen und fabelhaften Indiens in den deutschsprachigen Raum. Gleichzeitig lässt sich in der vormodernen Zeit ein anderes Indienbild ausfindig machen, jenes, das Indien entweder als niederträchtig erachtet und/oder aus einer überlegenen Position auf es hinabblickt. Auf gewisse Weise begegnet uns diese Vorstellung im Roman Barlaam und Josaphat, der über Arabien (8. Jhdt.), Georgien (10. Jhdt.) und Byzanz (11. Jhdt.) bis in den deutschsprachigen Raum (12. Jhdt.) gelangt. Der Text greift Buddha-Motive auf und erzählt von einem indischen Prinzen, der zum Christentum bekehrt wird. Später ist es Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), der alles dafür tut, um mit der Indienschwelgerei zu brechen – zumal ihm alles zuwider ist, dem die Romantiker mit Überschwang begegnen. Mit Erfolg, denn danach flacht der Indien-Hype zunächst einmal ab. Indien also entweder „Verstumpfung“ oder das „höchste Romantische“. Dazwischen gibt es nicht viel. Bis dato.

Verfasst von: Dr. Krisha Kops