Schildkröten

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Testudo Abingdonii – Zeichnung von R. T. Pritchett für eine Ausgabe von Journal of researches into the natural history and geology of the various countries visited by H. M. S. Beagle, London 1890.

1835 besuchte Charles Darwin die Galapagos-Inseln, auch Encantadas, also „verwunschene“ Inseln genannt. Seine mehrjährige Reise mit der Beagle legte den Grund für seine Theorie von der Entstehung der Arten. Ein Journal der Reise wurde 1839 publiziert.

Herman Melville kam an denselben Inseln 1841 vorbei. Darüber schrieb er in den zuerst 1854 veröffentlichten Encantadas oder die verwünschten Inseln. Darwins Entstehung der Arten erschien 1859.

Melville, Encantadas, Erste und zweite Skizze:

[...] selbst die größte Entschlossenheit kann mich nicht davor bewahren ..., die Geisterschildkröte aus ihrem Schattenwinkel auftauchen zu sehen; aber die Schildkröte, dunkel und melancholisch wie ihr Rücken ist, besitzt eine lichte Seite; denn ihr Calipee oder Bauchschild zeigt manchmal eine blassgelbe oder goldene Färbung. Überdies weiß jeder, dass sowohl die Landschildkröten als auch die Wasserschildkröten so gestaltet sind, dass man sie nur auf den Rücken legen muss, um ihre lichte Seite zum Vorschein zu bringen, wobei ihnen die Möglichkeit genommen ist, sich wieder umzudrehen und die andere Seite zu präsentieren. Doch nachdem man dies getan hat und eben weil man dies getan hat, sollte man nicht beschwören, die Schildkröte besitze gar keine dunkle Seite ... Die Schildkröte ist beides, schwarz und licht. [...]

Als ich in dieser Nacht in meiner Hängematte lag, hörte ich, wie sich über mir die drei unbeholfenen Neuankömmlinge langsam und beschwerlich über das vollgeräumte Deck schleppten. So groß war ihr Stumpfsinn oder ihre Entschlossenheit, dass sie keinem einzigen Hindernis auswichen. Kurz vor der Hundewache hörte die eine überhaupt auf sich zu bewegen. Bei Sonnenaufgang fand ich sie wie einen Sturmbock gegen den unerschütterlichen Fuß des Fockmastes gerammt und noch immer erbittert bestrebt, den unmöglichen Durchgang zu erzwingen [...]

Den nächsten Abend jedoch, so seltsam es klingt, setzte ich mich mit meinen Schiffskameraden zu Tisch und ließ mir fröhlich die Mahlzeit aus Schildkrötensteak und Schildkröteneintopf munden, und nach dem Essen zückte ich mein Messer und half, die drei gewaltigen ausgehöhlten Panzer in drei fantastische Suppenterrinen zu verwandeln und die drei flachen, gelblichen Calipees zu prächtigen Tabletts aufzupolieren.

So weit der Schriftsteller. Der Naturforscher beobachtete Folgendes:

Darwin, Reise mit der Beagle, Bd. 2, Kap. VI:

Wenn die Schildkröten zu einem bestimmten Punkt hin wandern, so gehen sie Tag und Nacht und kommen viel früher am Ziel ihrer Reise an, als man erwarten sollte ... Eine große Schildkröte, die ich beobachtete, ging mit einer Schnelligkeit von sechzig Ellen in zehn Minuten, das heißt 360 in der Stunde oder vier Meilen täglich, eine kurze Zeit zum Fressen auf dem Weg abgerechnet.

Während der Zeit der Fortpflanzung ... lässt das Männchen ein heiseres Brüllen oder Blöken hören, das man in einer Entfernung von mehr als hundert Schritten hören soll. Das Weibchen gebraucht niemals seine Stimme und das Männchen nur zu dieser Zeit, so dass die Leute wissen, dass sie zusammen sind, wenn sie dieses Geräusch hören. Sie legten gerade jetzt (Oktober) ihre Eier. Das Weibchen legt sie zusammen, wenn der Boden sandig ist, und deckt sie mit Sand zu; wo aber der Boden felsig ist, lässt es sie aufs Geratewohl in ein Loch fallen [...]

Ich setzte mich häufig auf ihren Rücken, und wenn ich ihnen auf den hinteren Teil der Schale einige Schläge gab, so standen sie auf und gingen weg; aber ich fand es schwierig, das Gleichgewicht zu behalten.

Einem unbestätigten Bericht zufolge tauchte Herman Melville im Herbst (bzw. dortigen Frühling) 1883 – ein halbes Jahr nach Darwins Tod – in Queensland, Australien, auf. Im Gepäck hatte er eine Riesenschildkröte, die dabei war Moby-Dick zu lesen. Sie habe das richtige Tempo, soll der Schriftsteller gesagt und darum gebeten haben, das Tier so lange sicher zu verwahren, bis es mit der Lektüre fertig sei. „Don't kill it, don't eat it, don't ride it“, schrieb er mit einem Stöckchen in den Sand. Ihr Name lautete Harriet. Lange Zeit nahm man jedoch an, dass es sich um Harry handelte. Ob her man selbst für diese Konfusion verantwortlich war, ist nicht bekannt. Harriet starb 2006 im Australia Zoo im Alter von 175 Jahren. Den Epilog von Moby-Dick hat sie nicht mehr geschafft.

Verfasst von: Thomas Lang