Die Frage der Zivilisation

Der Kannibalismus aus Hunger auf den Booten der untergegangen Essex ist unzweifelhaft. Normalerweise gehörte die Menschenfresserei jedoch zu den Horrorgeschichten, welche die christlichen Europäer über die sogenannten Wilden verbreiteten. Schon im 16. Jahrhundert diskutierte Montaigne die moralischen Implikationen des Kannibalismus in einem Essay. Auch der Stamm der Typee, bei denen Melville sich ein paar Wochen aufhielt, nachdem er auf Nuku-Hiva (Marquesas) vom Walfänger Acushnet getürmt war, standen in dem Ruf, Menschenfleisch nicht zu verschmähen.

Seine erstes Buch Typee (zu Deutsch oft: Taipi geschrieben) bezieht einen Teil seiner Spannung aus der Angst des Protagonisten, die Typee könnten ihn vielleicht nur deshalb so freundlich behandeln, weil sie ihn bei passender Gelegenheit aufessen wollten. Der Name des Stammes selbst soll dem Dichter zufolge nichts anderes bezeichnen als jemanden, der Menschenfleisch liebt. Sein Erzähler Tom, von seinen Gastgebern Tommo genannt, weigert sich aber, deswegen einen Abscheu zu entwickeln oder sich moralisch überlegen zu fühlen. Er reflektiert etwa:

Welch ein klares Bild der ungeheuren Kluft zwischen wildem und civilisirtem Leben gibt nicht dieses Verfahren! Ein Taipi-Vater kann eine zahlreiche Familie haben und seinen Kindern eine sehr gute cannibalische Erziehung geben mit weniger Mühe, als er aufwenden muss, um einmal Feuer anzumachen, während der europäische Arbeiter, der mit einem Streichhölzchen in einem Augenblick Feuer machen kann, daran verzweifeln muß, seinen hungernden Kindern die Nahrung zu verschaffen, welche die polynesischen Kleinen, ohne ihrem Vater zur Last zu fallen, von jedem Baum selbst pflücken können.

Nach einem Kriegszug der Typee werden ein oder mehrere erschlagene Feinde mitgebracht. Was dann folgt, schildert der Erzähler wie folgt:

Den Rest des Tages brachte ich mit Kory-Kory und Fayaway auf Wanderungen in den Gegenden des Thales zu, welche in der entgegengesetzten Richtung vom Ti lagen, und sobald ich nur nach dem Gebäude hinüberblickte, welches doch wenigstens eine englische Meile entfernt und vom Dickicht ganz verdeckt war, so rief mein Diener immer das verhängnisvolle „Taboo! Taboo!“

[...] Alles dieses bestärkte meinen Verdacht in Bezug auf das Fest, welches jetzt gefeiert wurde und er wurde fast zur Gewissheit. In Nukuheva hatte ich gehört, daß bei cannibalischen Banketten nie der ganze Stamm zugegen sei, sondern nur die Krieger und die Priester, und Alles, was ich hier sah, stimmte mit dieser Angabe überein.

[...] Eine unwiderstehliche Neugier, zu sehen, ob vielleicht der Ti Spuren von dem Vorgefallenen trüge, trieb mich Kory-Kory aufzufordern, dahin zu gehen ... Wenig später als diese Stunde machten wir uns auf den Weg nach den Hainen des Taboo und sobald wir ihre Grenzen überschritten, sah ich mich forschend um nach Spuren der Auftritte, welche gestern hier stattgefunden hatten; aber alles erschien ganz wie gewöhnlich. Als wir den Ti erreichten, fanden wir Mehevi und einige Häuptlinge auf den Matten liegen und sie empfingen mich mit ihrer gewöhnlichen Freundlichkeit ...

Als ich die Veranda entlang ging, ehe ich vom Pi-Pi herabstieg, bemerkte ich ein sonderbar geschnitztes, hölzernes Gefäß von beträchtlicher Größe, welches mit einem Deckel von demselben Stoff bedeckt war, und an Gestalt einem kleinen Canoe glich. Ein niedriges Gehege von Bambusrohr umgab dasselbe. Da das Gefäß nach meinem letzten Besuch dahin gestellt worden war, so nahm ich an, es müsse Bezug auf die letzten Festlichkeiten haben, und von einer Neugier, die ich nicht beschreiben kann, angetrieben, hob ich, indem ich daran vorbei ging, die eine Seite des Deckels ein wenig in die Höhe. In demselben Augenblick schrieen die Häuptlinge, welche meine Absicht sahen, ein lautes „Taboo! Taboo!“ Aber der eine Blick hatte genügt, er enthüllte mir die unordentlich durcheinander liegenden Glieder eines menschlichen Skeletts, dessen Knochen noch frisch und feucht, und hie und da noch mit kleinen Teilchen von Fleisch bedeckt waren.

Kory-Kory behauptet wenig später, es habe sich bei den Resten um Schwein gehandelt.

Verfasst von: Thomas Lang

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Fayaway, die Heldin aus Herman Melvilles Roman "Typee" (Ill. von A. B. Shute, 1894).