Gefühlte Mathematik

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© Thomas Lang

1520. 1500. 1361. 1460. 1510. 1396. 1545. 1366. 1384. 1602. – Das sind nicht die Infektionszahlen vom August 2020 für Deutschland, sondern Jahreszahlen an Bamberger Häusern, an denen ich vorbeikomme. Was macht die Pandemie mit unseren Köpfen und mit unseren Herzen? Da ist die Tapferkeit, etwas trotzdem zu tun. Shakespeare in zwanzig Minuten, Theater als Nummernrevue im Park. Da ist die Ignoranz, mit der wir Besucher durch die Stadt laufen. Ist nicht ausreichend Platz vorhanden für die anderthalb Meter Abstand, nehmen wir mit weniger vorlieb. Im Supermarkt herrscht Kampfstimmung, Ungeduld, eine „Platz da!“-Mentalität. Fast niemand reinigt noch die Griffe der Einkaufskörbe. Es gibt unterschiedliche Strategien gegen das diffuse Unbehagen, die vom Desinfizieren von Geldscheinen bis zum Leugnen jeglicher Gefahr reichen. Menschen, die ihre Masken draußen unter dem Kinn tragen, andere am Oberarm, sodass wie kleine, sinnlose Gliederdächer in den Raum ragen. Wieder andere, die sie an den Gummischlaufen fassen und von der Hand baumeln lassen und solche, die sie in die Hosentasche stecken.

Vor dem Café Müller komme ich neben zwei Männer zu sitzen. Der eine, weißhaarig, drahtig, Vormittagsbiertrinker und Raucher, schimpft über die Bevormundung, die Gängelei durch den Staat. Er benutzt ein schlimmeres Wort. Nur ein Prozent der Bevölkerung, rechnet er seinem Nachbarn vor, lebe in Altenheimen. Davon sterbe wiederum nur ein Prozent. „Also sind 99 Prozent, sogar 99,9 Prozent, nein 99,99 Prozent nicht betroffen, denn das sind ja 0,0 – 0,0...“ Er spricht nicht zu Ende. Unser schwieriges Verhältnis zu Zahlen – die meisten Menschen machen sich eine Vorstellung von ihnen, wir fühlen Zahlen. Wenn jemand von 0,001 Prozent Gestorbenen spricht, klingt es sehr wenig. Sind 100 Prozent gleich 83 Millionen, handelt es sich aber immerhin um 8300 Tote. Menschen, die gestorben sind. Ich finde das viel.

Bei der Konzerthalle der Bamberger Symphoniker führte der Heinrich-Bosch-Steg über die Regnitz. Es handelt sich um eine Seilnetzbrücke, was bedeutet, dass sie unter den Füßen ordentlich wackelt und schwingt. Ich schätze sie auf eine Höhe von etwa vier Metern. Auf dem Geländer sitzen zwei junge Frauen in Bikinis und bereiten sich darauf vor, ins Wasser zu springen. Das ist verboten, aber davon weiß ich nichts, als ich vorbeikomme. Ich frage sie, ob das Wasser tief genug sei. Sie erwidern, dass man schon die Beine anziehen müsse, sonst könne es sein, dass man den Grund berühre. Ich warte nicht, bis die beiden gesprungen sind, und gehe meines Wegs.

Wie viel setzen wir ein? Das ist ganz unterschiedlich. Die jungen Frauen springen offensichtlich nicht zum ersten Mal, und vor ihnen gab es andere. Ohne Risikobereitschaft, denke ich, wären wir vielleicht längst tot – aufs Ganze gesehen, als Gattung. Immer machen Menschen auch den einen Schritt zu viel. Das ist ihr persönliches Risiko. Schauen die Frauen nicht flussaufwärts vor dem Sprung, könnte es passieren, dass sie einem anderen Schwimmer auf den Kopf springen. Das ist ihre Verantwortung. Und darum geht es zur Zeit, scheint mir. Anderen den Kopf zu retten. Würde jemand sagen, wegen einem einzelnen Schwimmer kann ich leider nicht warten? Ich hoffe: nein.

Verfasst von: Thomas Lang