Die neue Residenz

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© Thomas Lang

Iphigenia hat einen Sohn, ein Jahr jünger und, wie sie schneeweiß. Den Namen erfahre ich nicht. Zu unterscheiden seien die Katzen an der Augenfarbe, heißt es. Ich finde, dass sie sich auch im Gesichtsschnitt nicht ganz gleich wirken. Die alte Dame liegt jedenfalls wieder auf den concordialen Stufen und macht auf kleine Sphinx. Es ist noch früh am Tag, etwa acht Uhr, und ich bin auf der Suche nach einem Frühstückscafé. Ich lauf den Berg hinan, ein steiler Weg, der zu irgendeinem fürstlich großen, barocken Bau führt und des weiteren vorbei an der evangelischen Stephanskirche, die ich zunächst für den Dom halte. Wie gut, dass es heutzutage an allen Sites ein Täfelchen gibt. Auf einmal geht es wieder hügelab, ich quere die Kaulberg-Straße. Der Bäcker hier scheint seinen Laden endgültig geschlossen zu haben. Ein Schild weist mich in Richtung Dom. Die kleinen Gassen sind fast menschenleer, von Autos keine Spur.

Ich komme mir vor wie in einem früheren Jahrhundert. Das ist natürlich reine Einbildung, schon die Idee, dass Stille und Leere, der leichte Dunst, die Glockenschläge uns einer lang vergangenen Zeit näher bringen könnten als, sagen wir, das Münchener Olympiazentrum, taugt rational betrachtet nichts. Also versuche ich, die ganzen Damals und Seithers, das Denken auf den Gleisen der Äonen weg- und mich einfach auf den Moment einzulassen.

Es soll hier oben einen Rosengarten geben, von dem aus der Blick über die Stadt schweifen kann. Ich kann ihn auf Google-Maps sehen, aber wo genau befinde ich mich? Der Standort-Punkt hüpft ständig hin und her. Ich gehe in eine Richtung los, zwei Minuten später bei der Kontrolle bin ich offenbar gar nicht da losgelaufen, wo ich dachte loszulaufen. Muss ich also wieder zurück? Einmal habe ich die Residenz bereits umrundet, als ich den Zugang im Hof des Gebäudes entdecke. Im Durchgang kommen mir zwei Menschen entgegen, sonst bin ich allein. Dennoch setze ich, wie ein Schild am Tor verlangt, meine Maske auf und wandele zwischen barock-antiken Gottheiten und tausenden blühenden Rosen hindurch in den hinteren Teil des Gartens. Wen habe ich nun beschützt, mich oder andere oder die kleinen Sandsteingötter? Einen Ordnungsgedanken? Das Café ist geschlossen und ich beschließe, mich in die Staatsbibliothek gleich hier im Gebäude zu begeben. Für wenige Schritte atme ich frische Luft, dann streife ich die Gummischlaufen wieder über meine Ohren.

Die Staatsbibliothek hat soeben geöffnet. Sie wirkt auf mich leer. Ich benetze meine Hände mit Desinfektionsmittel und suche meinen Weg zur Anmeldung. Ein freundlicher Herr nimmt meinen Antrag auf. Zwischen uns steht eine mehrere Meter lange Plexiglasscheibe. Ich denke häufig daran, wie noch in meiner Kindheit der Kundschafter dieses klassische Bild bot: eine Theke, meist in Gestalt einer Wandscheibe, auf der bis zur Decke reichende Glaswände saßen, unten ein Schlitz, manchmal mit einem Drehteller, oben eventuell ein paar Löcher, die den Schall durchlassen sollten. Die einzelnen Schalterbeamten (Bahn, Post) saßen dahinter teilweise auch voneinander getrennt, das Ganze diente womöglich eher dem Schutz vor Überfällen als dem vor Ansteckung. Die Scheiben in den Sparkassen und Banken waren unglaublich dick, kugelsicher, was ich als Kind kaum glauben mochte. Wo ist das alles hin? Ab den Achtzigerjahren wurden wir offen und freundlich und nah miteinander, das Verbindende erhielt gegenüber dem Trennenden den Vorrang. Nun sind wir wieder da, denke ich, am Anfang von etwas, das den Staat und die Institutionen als streng erleben lässt, das Misstrauen gegenüber den Mitmenschen auf der Straße, im Geschäft oder in der Bibliothek zur Grundregel macht.

Während ich dastehe, komm eine Putzfrau mit ihrem rollenden, eckigen Eimer und Mob. Sie wischt stumm den Boden, ich mache ihr stumm Platz, damit sie auch vor der Theke wischen kann, sie bedankt sich, wir sind kurz nett miteinander. Alles hinter Baumwolle und Zellulose, unser Lächeln an ein blindes Läppchen gerichtet.

Verfasst von: Thomas Lang

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