Pflicht und Neigung im Konflikt

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Mathias Etenhueber, Kupferstich nach einem Gemälde 1770 (c) BSB München/Bildarchiv

Wir haben etwas vorausgegriffen; kehren wir also zurück zu Reinhardstöttners Dienstantritt in München 1872. Während der nächsten 37 Jahre bis zu seinem Lebensende 1909 galten seine Aktivitäten im Wesentlichen vier Arbeitsfeldern:

  1. seinen akademischen Pflichtaufgaben beim Cadettencorps und an der Technischen Hochschule,
  2. seinen persönlichen sprach- und literaturwissenschaftlichen Neigungen,
  3. seiner kulturhistorischen Forschungs- und Publikationsarbeit,
  4. seinem Wirken als „Heimatschriftsteller“.

Wie im Nachruf der TH zu lesen ist, erfüllte Reinhardstöttner seine akademischen Lehrverpflichtungen mit Leidenschaft und rhetorischem Geschick selbst dann, wenn sich, „der Natur der Sache nach“, beim zahlenmäßig „kleineren Publikum“ nicht immer die wünschenswerte Resonanz einstellte. Sein pädagogischer Impetus und sein unverdrossener Idealismus trieben ihn an, über das vorgeschriebene Stundendeputat hinaus und ohne amtlichen Lehrauftrag wertvolle pädagogische Bildungsarbeit beim interessierten Teil der Studentenschaft zu leisten. Reformerische Anstöße für den Unterricht an Hochschule und Gymnasium, niedergelegt in wiederholt publizierten, methodisch und didaktisch zukunftsweisenden Schriften, zeigen ihn als einen fortschrittlich denkenden Gelehrten und Pädagogen, der jedoch nicht immer den verdienten Widerhall bei den bildungspolitischen Entscheidungsträgern fand.

Wen mag es wundern, dass angesichts der herrschenden Umstände sein anfänglicher Elan sich mit den Jahren mehr auf die ureigenen Talente eines sprachmächtigen Linguisten und Schriftstellers verlagerte. Mitte der 80er-Jahre trat ein, was unter Punkt 3 zu lesen steht und im Nachruf der TH so formuliert ist:

Hiemit ist jener Teil unserer wissenschaftlichen Biographie zum Abschlusse gebracht, welcher mit von Reinhardstöttners ursprünglicher Berufstätigkeit in enger Beziehung steht. Ehe wir zum zweiten Teil übergehn, müssen wir allgemein der Tatsache Erwähnung tun, daß er Neigung und Talent zum schriftstellerischen Organisator in hohem Maße besaß. Nicht weniger als drei von ihm in Verbindung mit Gleichgesinnten ins Leben gerufene Unternehmungen sind hier zu nennen, und ihnen ist während der zweiten Hälfte seines Gelehrtenlebens Zeit und Kraft hauptsächlich gewidmet worden. Vom Jahrbuch der Münchener Geschichte [...] liegen vier Bände vor [Ein fünfter Band wurde posthum von dem Mitbegründer Dr. Trautmann herausgegeben; d. Verfasser]. Die Bayerische Bibliothek hat es auf 15 Bändchen gebracht [insgesamt wurden es 30 Bände; d. Verfasser]. Endlich die Forschungen zur Kultur- und Literaturgeschichte Bayerns [insgesamt 16 Bände; d. Verfasser], die vom zwölften Bande an in die Forschungen zur Geschichte Bayerns umgewandelt wurden [...].

(Nachruf der TH)

Mit diesen periodischen Schriften vollzog sich der Wandel vom rein akademischen Wissenschaftler und Lehrer zum kulturhistorischen Forscher und Erzähler, dem sogenannten „Heimatdichter“. In diesen drei Sammelwerken hatte Reinhardstöttner nun reichlich Gelegenheit, sein weitgespanntes kulturhistorisches Interesse und sein immenses Detailwissen, seine außergewöhnliche Belesenheit und seine Lust am anschaulichen Erzählen auszuleben.

Das Wort „Kulturgeschichte“ fasste er im weitesten Sinne, hat er doch auch zwei sein geliebtes Vaterland [Lixenried und Bayerischer Wald; d. Verfasser] behandelnde Novellenzyklen [...] mit dieser Aufschrift gekennzeichnet [d. i. Kulturhistorische Erzählungen; d. Verfasser].

(Nachruf der TH)

In der Gründung, Herausgabe und Betreuung der drei Sammelwerke mit universell-bayerischer Kulturgeschichte fand er die belebende kreative Gegenwelt zur zermürbenden Alltagsroutine des Brotberufes.

Das Jahrbuch für Münchner Geschichte ist das erste Sammelwerk, das er zusammen mit dem kgl. Hofrat und Studienlehrer Karl Trautmann gründete und betreute. Es erschien erstmals 1887, war relativ kurzlebig, brachte es aber bis 1894 auf immerhin fünf Bände. Die Beiträge von so renommierten Historikern wie Karl Theodor von Heigel, Michael Doeberl, Moritz Ritter, Georg Leidinger u.a. behandeln Themen aus der Alltags- und Mentalitätsgeschichte, der Kirchen-, Kunst-, Literatur-, Musik-, Theater- und Wirtschaftsgeschichte – „eine Fundgrube für die Kulturgeschichte der bayerischen Landeshauptstadt“ (Andreas Dahlem, Bayerische Staatsbibliothek).

Die harmonische und erfolgreiche Zusammenarbeit der beiden Gelehrten ermutigte sie, zwei Jahre später, 1889, zu einem neuen Projekt, der Bayerischen Bibliothek, die schon nach drei Jahren bis auf 30 Bände anwuchs. Den Eröffnungstitel steuerte Reinhardstöttner bei mit einer Biographie des Münchner Humanisten Martinus Balticus, und als Band 17 ließ er die ethnographisch-soziologische Studie Land und Leute im Bayerischen Wald folgen.

Diese Hommage auf den Bayerischen Wald sollte sein Bestseller werden, der bis in die heutige Zeit mit Gewinn zu lesen ist; er wird uns im vorletzten Kapitel wieder begegnen.

Hatte sich das Jahrbuch in Themen- und Stoffwahl im Wesentlichen auf die Stadt München und ihre nähere Umgebung beschränkt, so erweiterte die Bayerische Bibliothek den Horizont auf ganz Bayern. Monographien über bayerische Staatsmänner, Humanisten, Künstler und Wissenschaftler stehen neben Abhandlungen über Städte, Orden, Schlösser, Kirchen und Museen. Die Bandbreite der behandelten Gegenstände umfasst berühmte Persönlichkeiten aus Kunst- und Geistesleben ebenso wie die sogenannten kleinen Leute, bedeutende Städte und Kulturinstitutionen ebenso wie scheinbare Belanglosigkeiten des Alltags. Aus der Fülle der Titel seien nur einige genannt:

Der Bogen spannt sich von Abhandlungen wie Martin Beheim, Aventin, Karl Stieler, Lorenz von Westenrieder, Franz Graf Pocci, Richard Wagner u.a. bis zu Arbeitergestalten aus den Bayerischen Alpen und Mundarten und Schriftsprache in Bayern, Studien wie die von Nymphenburg, Altnürnberg, das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg bis zur Geschichte des kgl. Münzkabinetts in München oder zu Alpenlandschaften und Alpensage in den Bayerischen Bergen.

Kein Sujet war ihm zu unbedeutend, als dass er ihm nicht Raum in dieser wissenschaftlichen Reihe gewährt hätte, getreu der Maxime des Historikers Max Lenz: „Jede Lokalgeschichte ist ein Stück Weltgeschichte.“

Diesem Motto huldigte Reinhardstöttner noch intensiver mit den 1893 gegründeten und bis 1908 fortlaufend erschienenen 16 Bänden der Forschungen zur Geschichte Bayerns. Mit einem Fünftel der insgesamt 163 Beiträge bereicherte er dieses fruchtbare Sammelwerk bayerischer Geschichte. Dabei bewährte er die gewohnte Vielseitigkeit und den staunenswerten Kenntnisreichtum in seinen wissenschaftlichen Aufsätzen aus unterschiedlichsten Themenbereichen, von Epochendarstellungen (Humanismus) und Gestalten der bayerischen Aufklärung (Dominik Zaupser u. a.) bis zu Münchner lokalhistorischen Genrebildern.

Er referiert über Bayern und seine Hauptstadt im Lichte von Reiseschilderungen und fremden Kundgebungen in zehn Teilen, über den kurfürstlich-baierischen Hofprediger Mathias Etenhueber, Des Lederschneiders und Poeten Johann Mayr von München, Lobspruch von München und Landshut 1604 und über Die sittlich-ökonomische Gesellschaft zu Burghausen der Jahre 1765-1802; ihn interessierten Faschingsschlittenfahrten bayerischer Studenten ebenso wie Die Nutz- und Lusterweckende Gesellschaft der Vertrauten Nachbarn am Isarstrom oder zeitgenössische Periodika wie Eine Münchner Monatsschrift aus dem Jahre 1782 und Georgica Bavaria 1900.

In dieser aufwendigen Unternehmung treffen wir als Beiträger viele Bekannte aus dem Jahrbuch und der Bayerischen Bibliothek wieder, die Heigel, Doeberl, Leidinger, Ritter, hinzu kommen Ivo Striedinger, Theodor Bitterauf, Wilhelm Hausenstein u.v.a.

Trotz beruflicher Belastung und angegriffener Gesundheit trug er unermüdlich zum Gelingen dieser Publikationen bei; erst 1904 beendete er seine aktive Mitarbeit.

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Verfasst von: Max Heigl (Text) / Bayerische Staatsbibliothek (Bildbeigaben)