Natur versus Kultur: Herbert Achternbusch

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Herbert Achternbusch: Die Alexanderschlacht. Suhrkamp, Frankfurt a. Main 1978 (Bildcover)

Herbert Achternbusch wird 1938 in München geboren und studiert u.a. an der Münchner Kunstakademie. Bereits ab den 1960ern betätigt er sich vielseitig als Buchschriftsteller und Dramatiker sowie Maler und Filmemacher. Achternbusch darf dahingehend als ein Prototyp der fließenden künstlerischen Grenzen gelten. Der deutschlandweite Durchbruch gelingt ihm mit seinem 1971 erscheinenden Roman Die Alexanderschlacht. Sein erfolgreichstes Theaterstück Gust (1986) steht mehrere Jahre auf dem Spielplan der Kammerspiele, in der Besetzung mit Josef Bierbichler. Mit Bierbichler und seiner Schwester Annamirl (mit der Achternbusch acht Jahre lang ein Verhältnis hat) wohnt er in den 1980er-Jahren in einer Wohngemeinschaft in Ambach am Starnberger See. Als Filmemacher lernt er von Volker Schlöndorff, Werner Herzog und Margarethe von Trotta. Für Herzogs Herz aus Glas (1976) schreibt er das Drehbuch und steht vor der Kamera in Schlöndorffs Übernachtung in Tirol (1974). Mit seinen eigenen Filmbeiträgen etabliert sich Achternbusch als Enfant terrible und Bürgerschreck: angefangen vom Blasphemievorwurf gegenüber dem Film Das Gespenst von 1982, in dem in einem bayerischen Kloster Christus vom Kreuz steigt, um mit der Ordensschwester zu schlafen, bis hin zu heftigen Spitzen gegen die Landespolitik wie im Film Der Depp (1982), in dem der Ministerpräsident Franz Josef Strauß vom Titelhelden im Hofbräuhaus vergiftet wird. Überhaupt sind bajuwarische Heimattümelei und Bierseligkeit vornehmliche Zielscheibe des Provokateurs: In Der junge Mönch (1978) lässt er eine Atombombe auf den Freistaat niedergehen. Achternbusch als Heimatschriftsteller zu bezeichnen liegt denn nicht so fern, aber Heimat wird bei ihm aufs Korn genommen. Heimat ist ein innerer Zustand, eine emotionale Erfahrung, die nicht zwangsläufig in einer geografischen Ausdehnung existieren muss.

Das Umschlagbild der Alexanderschlacht ist einer Szene aus dem Film Servus Bayern (1978) entnommen: Das Porträt des posierenden Autors wurde dabei Johann H. W. Tischbeins Tafelgemälde Goethe in der Campagna (1787) entlehnt, auf dem er in ebenderselben Haltung und in einen weißen Hosenanzug gekleidet vor der Kulisse eines Meerufers verweilt, die an die Stelle der im Goethe-Porträt wiedergegebenen Kulturgüter tritt. Natur versus Zivilisation lautet die Formel dieses Arrangements. Fernab der Zivilisation liegt der Schauplatz der Alexanderschlacht: Der Ich-Erzähler, mal nennt er sich „Sepp“, mal „Jörgl“, ein Mädchen namens Susn liebend, die zugleich Phantasiefigur und Jugenderinnerung oder gar Halbschwester ist, hat seine Ehe zersprengt und strauchelt durch den lebenshasserfüllten Alltag. Er zieht sich als Waldschrat zurück, desillusioniert vom Leben, vom System in den Bayerischen Wald nahe Deggendorf, im Gepäck ein Buch namens Die Alexanderschlacht, dessen Autor er mutmaßlich selbst ist.

Ich habe den Kampf angesagt allem, was ich höre sehe und rieche. Ich reiße die Nase auf die Ohren und die Augen, um zu riechen zu hören zu sehen. In den Camembert steck ich die Nase und rieche Frankreich die Saône entlang und schmeiß ihn weg, den Käs in den Abfalleimer unterm Waschbecken. Ich stehe da mit steifem Kreuz, weil ich alt bin, und alt geworden bin, weil ich soviel stand, um mit Verstand alt zu werden und seh die Wiesenpflanzen, an die der Wind rüttelt und das durcheinandergeschüttelte Grün beschäftigt mich und ich flehe Buddha an, schick mir eine Kuh, die das Grün wegfrißt. [...] Am schlimmsten ist das Hören. Wenn mich etwas verrückt macht, ist es das Hören; denn ich hör zu viel, ich hör auch zu gut, es ist auch so laut [...], am lautesten sind die Kinder, und Kinder mag ich nicht. [...] Die Kinder sind doch die Zukunft, aber die Zukunft mag ich nicht; deshalb meine Antipathie für Kinder, weil sie in die Zukunft laufen, unaufhaltsam.

(Herbert Achternbusch: Alexanderschlacht. Frankfurt a. Main 1971, S. 220f.)

In der Einöde verweilt er in der Nähe zu einem ehemals vulkanischen Berg, ein Bezug mit gutem Grund: Auch der niedergedrückte Autor ist wie ein erloschener Vulkan, nachdem er unter Eindruck seines scheußlichen, inspirierenden Lebens alles künstlerische Potential ausgespien, in die Form der Alexanderschlacht gegossen hat. Die Lebenssituation des exilierten Sepp nimmt Bezug auf eine Überlieferung aus dem 19. Jahrhundert, als in dieser Region ein gewisser Michael Heigl lebte, ein Räuber, der sich nach seiner Flucht vom Gericht 1843 in eine Höhle auf dem Kaitersberg zurückzog. Heigl ist als der „Robin Hood“ des Bayerischen Waldes überliefert: Er bestahl nur Großbauern und Klerus, raubte nur öffentliche Kassen. Diese Geschichte enthält eine Opposition, die auch im Werk Achternbuschs und in der Alexanderschlacht im Besonderen aufgegriffen wird: die Gesetze des Staates gegenüber den individuellen Lebensgesetzen – in der Robin-Hood-Parabel erweitert um die Aussage: Recht ist nicht gleich Moral. Natur versus Zivilisation heißt in der Adaption Achternbuschs: ein Abgesang auf das Bürgerlich-Geordnete. Wissenschaftskritik und Skepsis gegenüber der Diktatur der Vernunft, dem blinden aufklärerischen Glauben, derer sich neue Obrigkeiten bedienen, werden formal in der disparaten Erzähltechnik und der subjektiven Totalität gespiegelt.

Achternbuschs Erzählstrategie bricht mit den Gesetzen der Logik und demontiert die (vermeintliche) Wirklichkeit – darin ist sie zutiefst realistisch. Da ist die zertrümmerte Welt, in der die zivilisationsbegeisterte Gattung Mensch angekommen ist. Und so ergibt sich die chaotische und verschachtelte Struktur des Romans aus der ebenso diskontinuierlichen Realität, die sie einzufangen sucht. Der Widerspruch ist das Wesen der Welt – das letzte Rätsel, das der Homo technicus nicht verstehen will. Satirisch und absurd, mal surrealistisch gefärbt ist der Blick Achternbuschs auf diese paradoxe Welt, ein Blick, der sich der Ratio verweigert und dem Instinkt folgt. So fokussiert Achternbusch auch mehr auf Erscheinungen, Assoziationen, Metaphern, um die Herrschaftslogik dieser Gesellschaft zu demontieren. Recht und Ordnung stehen in diesem Staat über der Menschlichkeit. Entsprechend der David-gegen-Goliath-Devise schildert der Autor den aussichtslosen Kampf der Außenseiter, der trotz seiner Aussichtslosigkeit geboten ist. Gegen die geeinte Wohlstandsgesellschaft setzt er eine neue Innerlichkeit, gegen das Gemeinschaftsgefühl die Selbstverwirklichung. Der Kampf gegen die Übermacht, weniger das Ringen mit dem Überdruss am vereinzelten Sein ist das eigentliche Thema der Alexanderschlacht, die Bedeutung der Individualität, die es gegenüber dem gleichgeschalteten Kollektiv zu wahren gilt. Darin verbirgt sich vor dem Hintergrund seiner Zeit auch eine Ideologie- und Faschismuskritik – eine Kritik an der unkritischen Masse, gegenüber die das Individuum aufbegehren muss. Die Alexanderschlacht nimmt Bezug auf Alexander, den großen Feldherrn, der aus einer kulturarmen Gegend Makedoniens kommt und in der legendären Schlacht bei Issos den Perserkönig Darius III. schlägt.

Der historische Wendepunkt der Antike korrespondiert mit der Zeitenwende der 60er-Jahre: Das benachteiligte Individuum bäumt sich auf, die überzählige Heerschar zu überwinden, seine Autonomie gegenüber Konvention und Fremdbestimmung zu verfechten. Die Alexanderschlacht steht für die große Schlacht des individuellen Lebens, am Beispiel des Ich-Erzählers: die Eroberung des Mädchens, das Ringen mit der künstlerischen Produktivität, das in seinem Roman eine weitere Ebene eröffnet: Das Schreiben, ein Schreiben über das Schreiben, über ein Schreiben über das Ich, das schreibenderweise Ringen mit jenem Ich, das es (schriftlich) ‚auszuschlachten‘ gilt – für die Kunst, die zugleich verhöhnt wird wie alles, wie die Welt, das Leben und ebenjenes Ich. Und es ist die große Schlacht darum, einen Lebensentwurf abseits der Norm durchzusetzen, sei es auch nur die vereinzelte Existenz in der abgelegenen Natur.

ich fang noch einmal an mich kennen zu lernen [...] ich fange noch einmal an zu denken _ und merke _ ich bin ein Pferd [...] ich bin mir unsicher _ ob ich enttäuscht bin _ ich riskiere es nicht enttäuscht zu sein sonst müßte ja auch die Möglichkeit bestehen, daß ich zufriedengestellt werden kann […] das hieße noch einmal Erkenntis nicht abschreiben _ das hieße noch einmal _ blind zu sein _ das hieße diese ganze Pferdenatur noch einmal herausfordern _ diese Pferdenatur zu traktieren _ nicht nur Pferd Pferd einen Lipizzaner _ aus mir machen hieße das und springen über Gerüste und Gräben _ nein nicht nur Verbesserung der Pferdenatur _ auch Verwandlung _ Panzer Raketen Dampfer undsoweiter werden _ hieße also nichts anderes als kämpfen hieße das eine mit dem anderen vertauschen hieße wechseln verwechseln ausgewechselt werden hieße in der Schlacht sein _ hieße sei Alexander _ hieße also kämpfen _ damit im fernen Hindukusch irgend ein Stamm 2000 Jahre lang Gewänder in griechischen Falten trägt [...] _ gehen schwimmen in die Luft hüpfen _ im Liegestuhl liegen _ und denken hinausdenken über den Zigarettenrauch.

(Ebda., S. 224f.)

Verfasst von: Monacensia im Hildebrandhaus / Dr. Nastasja S. Dresler

Sekundärliteratur:

Borninkhof, Christoph (1994): Das Selbstlebenschreiben. Studien zum schriftstellerischen Werk Herbert Achternbuschs. Frankfurt a. Main.

Drews, Jörg (1982): Alexanderschlachtbeschreibung. In: Ders. (Hg.): Herbert Achternbusch. Frankfurt a. Main.

Loimeier, Manfred (2013): Die Kunst des Fliegens. Annäherung an das künstlerische Gesamtwerk von Herbert Achternbusch. München.