Das literarische Gedächtnis von '68

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Hans Magnus Enzensberger (Hg.): Kursbuch 11. Revolution in Lateinamerika. Suhrkamp, Frankfurt a. Main 1968 (Bildcover)

Auch die Literatur weiß Gemüt und Geschmack zu strapazieren, überkommene soziale Normen und Vorstellungen zu demontieren und den Finger in historische Wunden zu legen. Die Ära der Gruppe 47 wird zwei Jahre vor '68 besiegelt: Peter Handke erhebt sich auf einer Gruppentagung in Princeton gegen die „läppischen“ und „impotenten“ Produktionen seiner schreibenden Kollegen, womit eine Protestwelle durch den deutschen Literaturbetrieb geht. Robert Neumann wettert in der Zeitschrift Konkret gegen die Gruppe, dass es dieser an Schöpfergeist mangele, sie konformistisch und wirkungslos sei. Während es Neumann vor allem um eine Politisierung und Handlungsausrichtung der Literatur geht, übt Handke vor allem Sprachkritik. Ein Jahr darauf stören Mitglieder des SDS eine Tagung nahe Erlangen und skandieren, die Gruppe sei nichts als ein „Papiertiger“ und selbst Teil des Establishments geworden. Es sind Werke wie Peter Weiss' Auschwitz-Protokolle (Die Ermittlung, 1965), an deren radikalen Faktenorientierung infolgedessen eine ganze Generation von Literaturschaffenden anknüpft, oder Rolf Hochhuts entlarvendes Vatikan-Drama Der Stellvertreter (1963), Martin Walsers Abgesang der bürgerlichen Lebenswelt in Fiction (1970) und Erika Runges Bottroper Protokolle (1968) als Porträt der Arbeiterwelt, nicht zuletzt Alexander Kluges Stalingrad-Dokumentation Schlachtbeschreibung (1964), die eine literaturgeschichtliche Zäsur markieren. Als einer der wichtigsten Beiträge tut sich Siegfried Lenz' Deutschstunde (1968) hervor, die einer ganzen Nation eine Lektion erteilen will.

Diese Literatur der 60er-Jahre sucht die Realität und nichts als die Realität abzubilden – eine politische Realität –, den Leser zu konfrontieren und ihm eine Weltflucht zu versperren. Wichtiger Impulsgeber dieser Entwicklung ist der in Kaufbeuren geborene und in München lebende Hans Magnus Enzensberger, dessen Forderung nach einer politischen „Alphabetisierung Deutschlands“ in seinem legendären Kursbuch 15 formuliert wird. Die Literatur müsse sich von ihrem existentialistischen Duktus entfernen und wieder einen politischen Ton anschlagen, debattieren und argumentieren, eine Antwort auf die Technisierung der Gesellschaft bereithalten – sie müsse unmittelbarer werden. Das Kursbuch erscheint als ein Organ des SDS im Suhrkamp Verlag. Der Band vom November 1968 versammelt zahlreiche kritische Stellungnahmen von Schriftstellern zur Lage der Literatur: Sie verkünden das Ende der bürgerlichen Ästhetik. Dabei sind diese Beiträge längst nicht allesamt als Vehikel der Studentenbewegung zu lesen: Die Beiträge von Lenz oder auch Rolf Dieter Brinkmann verstehen sich nicht als ein Pamphlet; sie erkunden vielmehr das Setting, in dem sich eine Reihe von Pamphleten konstituiert, studieren das Individuum, wie es sich an den Idealen berauscht und unterzugehen droht oder diese verrät – so auch in Brinkmanns Keiner weiß mehr (1968). Der Wunsch nach Selbstverwirklichung versandet im Falle eines jungen Paars im haltlosen Konsum und in der Routine der Wohlstandsgesellschaft. Im Vergleich zu rabiaten Stücken wie Heinrich Bölls Ende einer Dienstfahrt (1966), im Vergleich zu dem idealistischen Geist der Gruppe 47 wirken diese Ansichten geradezu abgeklärt, und gerade in dieser Abgeklärtheit mag sich ihre Realitätsnähe begründen.

Diese realistische Radikalität, die Einsicht in die Verdinglichung des Menschen in einer „verwalteten Welt“ (Adorno) formiert sich auch bei Gisela Elsner. Zugleich spiegeln die sich in diesem zeitlichen Zusammenhang etablierenden Konzepte der Neuen Subjektivität (Karin Struck), die eng verknüpft sind mit der introspektiven Haltung des phantastischen Realismus und Surrealismus (s. u.a. Herbert Achternbusch bzw. Wolfgang Bächler) die Hochkonjunktur der Selbsterfahrung und versuchen der Versachlichung der Welt entschieden entgegenzutreten. München ist auch in den 1960er-Jahren der Bundesrepublik einer der Anziehungspunkte für SchriftstellerInnen. Und wie für die anderen künstlerischen Gattungen lässt sich auch für die Literatur kein trennscharfer Bereich abgrenzen. So stehen viele Autoren zugleich auf der Bühne oder hinter der Kamera (s. u.a. Dieter Hildebrandt oder Sigi Sommer). Die Kunst der '68er ist eine Gesamtkunst und sucht ein altes Ideal zu verwirklichen: die Verschränkung von Kunst und Leben. Die lebendige Kunst ist eine Kunst des (antibürgerlichen) Protests. In der Protestaktion durchdringen sich künstlerisches Statement und Lebensalltag. Es scheint dabei, als liefen um 1968 die Fäden der bayernweiten Revolte in der Landeshauptstadt zusammen. Wie der revolutionäre Geist hingegen in den ländlichen Regionen und Kleinstädten des Freistaates aufgenommen wird, illustrieren Martin Sperr oder Benno Hurt.

Verfasst von: Monacensia im Hildebrandhaus / Dr. Nastasja S. Dresler

Sekundärliteratur:

Briegleb, Klaus (1993): 1968. Literatur in der antiautoritären Bewegung. Frankfurt am Main.

Grasskamp, Walter (1995): Der lange Marsch durch die Illusionen. Über Kunst und Politik. München.

Huber, Martin (1992): Politisierung der Literatur – Ästhetisierung der Politik. Eine Studie zu literaturgeschichtlichen Bedeutung der 68er-Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt am Main et al.

Lüddemann, Stefan (2018): Deutschstunde und Christa T.. Wie Literatur in Deutschland den Geist von 1968 prägte. In: Osnabrücker Zeitung, 5. Februar. URL: https://www.noz.de/deutschland-welt/kultur/artikel/1015663/wie-literatur-in-deutschland-den-geist-von-1968-praegte-1#gallery&0&0&1015663

Scholl, Joachim (2008): 1968 und die deutsche Literatur. Deutschlandfunk Kultur Archiv, Beitrag vom 7. April. URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/1968-und-die-deutsche-literatur.1308.de.html?dram:article_id=193559