Walter Benjamin in Seeshaupt

Der jüdische Philosoph, Literaturkritiker und Schriftsteller Walter Benjamin zieht 1915 nach München, um sein Studium fortzusetzen. Den Sommer 1916 verbringt er zusammen mit seiner späteren Frau Dora Sophie Pollak in der Villa ihres getrennt lebenden Mannes Max Pollak in Seeshaupt am Starnberger See, wo ihn mehrere Tage sein Freund, der jüdische Religionshistoriker Gershom Scholem besucht. Dieser hat Benjamin bereits ein Jahr zuvor in Berlin kennengelernt. In seinem Buch Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft (1975) erinnert er sich auch an die gemeinsame Zeit in Seeshaupt:

Am nächsten Vormittag zeigte mir Benjamin die sehr schöne Bibliothek, darunter die Schwabsche Ausgabe der Werke Hölderlins von 1846, Bothes Pindarübertragung von 1808, die Voss'sche Horazübersetzung und vielerlei anderes, auch viel Philosophisches. Am Boden lag Ernst Machs Erkenntnis und Irrtum. Dora wollte es verkaufen, weil es doch so gar nichts sei. [...]

Seine innige Beziehung zu den Dingen, die er besaß, Büchern, Kunstwerken oder Produkten des Kunsthandwerks, oft bäuerlicher Natur, war evident. Zu allen Zeiten, in denen ich ihn gekannt habe, auch noch bei meinem letzten Besuch in Paris, liebte er es, solche Gegenstände vorzuzeigen, dem Besucher in die Hand zu geben und Betrachtungen über sie anzustellen, gleichsam wie ein Pianist zu fantasieren. Schon in jenen Monaten fiel mir auf seinem Schreibtisch eine bayerische blaue Kachel mit einem dreiköpfigen Christus auf, von der er mir erzählte, sie fasziniere ihn durch ihre rätselhafte Machart. Im Lauf der Zeit kamen verschiedene kleine Figurinen und Bilder, meistens Reproduktionen, dazu. Schon damals und noch lange hing in seinem Arbeitszimmer eine solche von Grünewalds Altarbildern aus Colmar, um deretwillen er als Student 1913 eigens nach Colmar gefahren war. (Zit. aus: Gershom Scholem: Mit Walter Benjamin in Seeshaupt. In: Ders.: Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt am Main 1975, S. 38-40, S. 46-48, S. 51. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1975)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek

Sekundärliteratur:

Tworek, Elisabeth (2011): Literarische Sommerfrische. Künstler und Schriftsteller im Alpenvorland. Ein Lesebuch. Allitera Verlag, München, S. 119, S. 246f.