Frömmigkeit und Kirchenkritik im Werk Ludwig Thomas

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Antikatholische Karikatur in den Münchner Satirezeitschrift Leuchtkugeln, 1848. Der katholische Geistliche als Fuchs, der als blinder Passagier auf dem Wagen des Fortschritts mitreist, um später den Lauf der Geschichte umzudrehen.

Zu Anfang der siebziger Jahre erregte die Welt jener Streit um das Unfehlbarkeitsdogma. In Städten und Dörfern kam es zu heftigen Wortkämpfen und zum Eintritt in die altkatholische Kirche. Mein Vater stand auf der Seite seines alten Rektors Döllinger und sah kopfschüt­telnd, wie sich so plötzlich Gewissensfragen erheben konnten. [...] Meine Mutter aber hing zu sehr an der alten Sitte und den alten Formen, als dass sie sich ein Urteil angemaßt hätte.[1]

Ludwig Thoma (1867-1921), zur Zeit des Ersten Vatikanischen Konzils gerade drei Jahre alt, hat die Aus­einandersetzungen um die päpstliche Unfehlbarkeit und die Abspaltung der Alt­katholiken wohl aus vielfachen Berichten und Gesprächen in seinem Elternhaus erfahren. Er, der dem alten Professor Ignaz Döllinger in späteren Jahren noch persönlich begegnet[2], er­lebt in diesem Elternhaus zwei verschieden akzentuierte Formen christlicher Prägung. Die traditio­nell-katholische Spiritualität der Mutter – „[...] erzogen in Frömmigkeit und kleinem Be­hagen [...]“[3] – wie auch das aufbrausende, eher skeptische Temperament des Vaters. Diese grundle­gende Dualität beginnt sich wie ein roter Faden durch Leben und Werk Thomas zu ziehen. Der Dichter und Publizist wird diesen Gegensatz später so scharf akzentuieren, dass er in­nerlich – so scheint es – daran zu zerbrechen droht. Polternde, zumeist bewusst verlet­zende Polemik gegenüber Teilen der katholischen und evangelischen Kirche einerseits, in­nige, für heutigen Geschmack oftmals süßlich-kitschige Frömmigkeit andererseits – das sind die beiden Pole von Thomas religiösen Äußerungen, von seinen frühen schriftstellerischen Versuchen bis hin zu den Hasstiraden im Miesbacher Anzei­ger[4].

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[1] Ludwig Thoma: Erinnerungen. In: Ludwig Thoma: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Erw. Neuausg. München 1968, Bd. 1, S. 90.

[2] Ebda., S. 104.

[3] Thoma an Maidi von Liebermann, Rottach, 5. Januar 1919. In: Ludwig Thoma. Ein Leben in Briefen (1875-1921). Hg. von Anton Keller. München 1963, S. 349f., hier S. 349.

[4] Ludwig Thoma: Sämtliche Beiträge aus dem Miesbacher Anzeiger 1920/21. Kritisch ediert und kommentiert von Wilhelm Volkert. München-Zürich 1989.

Verfasst von: Dr. Norbert Göttler / Bayerische Staatsbibliothek

Sekundärliteratur:

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