Der moderne Prometheus

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"Frankenstein", Stahlstich-Frontispiz, Ausgabe 1831.

Victor Frankenstein arbeitete fast zwei Jahre ununterbrochen an seinem ehrgeizigen geheimen Projekt, gönnte sich keine Pause, vernachlässigte seine Gesundheit, kannte zur ein Ziel: die Verwirklichung seines Traumes.

Wie könnte ich Ihnen beschreiben, was ich empfand, und das Ungetüm schildern, das ich da mit so viel Mühe und Fleiß geschaffen? Seine Glieder waren proportioniert und seine Züge hatte ich möglichst schön gemacht. Schön! Großer Gott! Seine gelbliche Haut genügte kaum, um das Geflecht von Muskeln und Adern zu decken; sein Haar war glänzend schwarz und lang; seine Zähne wie Perlen. Aber das alles bildete nur einen um so auffallenderen Gegensatz zu den wässerigen Augen, die sich von den Augenhöhlen kaum abhoben, der faltigen Haut und den schwärzlichen, schmalen Lippen.

Doch Victor Frankensteins Stolz auf seine Schöpfung verwandelte sich in Schrecken und Ekel, er konnte den Anblick des Wesens nicht länger ertragen, rannte aus seinem Laboratorium in sein Schlafzimmer, suchte vergeblich, Ruhe und zu finden, schlief irgendwann erschöpft ein und wurde von Albträumen gequält, in denen seine Jugendliebe eine Hauptrolle spielte.

Mir war, als sähe ich Elisabeth in der Blüte ihrer Jugend und Gesundheit in den Straßen von Ingolstadt dahinschreiten. Überrascht und erfreut eilte ich ihr nach und schloss sie in die Arme. Aber kaum hatte ich ihr den ersten Kuss auf die Lippen gedrückt, als sie fahl wurde wie eine Tote; ihre Züge veränderten sich und ich hielt den Leichnam meiner Mutter in den Armen.

Doch es sollte noch schlimmer kommen, denn er sah sich plötzlich seinem eigenen Geschöpf gegenüber, das er nun als Ungeheuer empfand und dessen Blick ihm unerträglich war, so dass er die Flucht ergriff.  

Ich suchte Zuflucht im Hofe des von mir bewohnten Hauses. Dort ging ich bis zum Morgen auf und nieder, aufs tiefste erregt, und lauschte auf jeden Laut, der sich aus dem Hause vernehmen ließ. Mir war es, als müsste der hässliche Dämon nahen, dem ich so leichtsinniger Weise Leben verliehen hatte.

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Gunna Wendt