Die Elf Scharfrichter

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Diseuse unter den Scharfrichtern: Marya Delvard (c) Archiv Monacensia

Anfang 1901 feiert das erste deutsche Kabarett Überbrettl in Berlin Premiere. Bald darauf, am 13. April, wird die Bühne Die Elf Scharfrichter eröffnet, in einem etwa 100 Plätze fassenden Hinterzimmer im Wirtshaus Zum goldenen Hirschen in der Türkenstraße 28. Kunstmaler, Redakteure der Satirezeitschrift Simplicissimus und Schauspieler beschließen die Gründung eines Kabaretts im Fasching 1901. Sie sind Mitwirkende an Protestaktionen gegen die seinerzeit grassierende obrigkeitsstaatliche Zensur gegenüber Künstlern. Darauf spielen sie am Premierenabend an: Folterwerkzeuge sind auf der Bühne zu sehen, das Bühnen-Logo besteht aus einem Totenkopf mit Richterperücke und einem Pranger.

Bis in die 1920er-Jahre findet in München Kleinkunst statt im Stil des ursprünglichen Pariser cabarets in Form von Boheme-Lokalrunden mit Improvisation und Offener Bühne und ohne regelmäßiges Programm. „Bei den Elf Scharfrichtern erscheinen die verschiedenen Kleinkunstformate, Gesang, kurze Szenen, Gedichtrezitationen und vieles mehr, erstmals unter der Gattungsbezeichnung Kabarett“, so Elf-Scharfrichter-Expertin und Autorin Judith Kemp. Nun gibt es in München erstmals einen festen Künstlerstamm. Dazu zählen unter anderem Impressario Marc Henry, der Dichter und Dramatiker Frank Wedekind, Otto Falckenberg, Autor, Schauspieler und Regisseur, genannt Peter Luft, Heinrich Lautensack, Hanns von Gumppenberg sowie die Sängerin Marya Delvard alias Marie Biller. Die wichtige Chansonpionierin im deutschsprachigen Raum tritt auf als Vamp und trägt mit rauchig-verruchter Stimme damals in München noch wenig bekannte Chansons vor. Den kreativen Kern der Bühne freilich bilden der Schriftsteller Leo Greiner alias Dionysius Tod, Robert Kothe, Künstlername Frigidius Strang, und der als Hans Richard Weinhöppel geborene Komponist Hannes Ruch.

Der dargebotenen Melange aus literarischen Chansons, Tänzen, Sketchen, Schatten- und Puppenspielen, mitunter samt kritischen Anmerkungen zu Zensur und Willkürstaat, ist nicht selten ein morbider und erotischer Charme zu eigen. Das von Leo Greiner betextete und von Richard Weinhöppel komponierte Auftrittslied der Elf Scharfrichter beginnt mit folgendem Chor:

Erbauet ragt der schwarze Block,
Wir richten scharf und herzlich,
Blutrotes Herz, blutroter Rock,
All unsere Lust ist schmerzlich,
Wer mit dem Tag verfeindet ist,
Wird blutig exequieriert,
Wer mit dem Tod befreundet ist,
Mit Sang und Kranz gezieret.

(Quelle: Budzinski, Klaus [1982]: Pfeffer im Getriebe. Ein Streifzug durch 100 Jahre Kabarett. München.)

„Das Unternehmen, dem mehrere weniger erfolgreiche Nachahmer folgten, hielt sich nur 1901 bis 1904, lebte aber als Legende und Vorbild zukünftiger Kabarettkünstler weiter“, heißt es im Historischen Lexikon Bayerns. Gleichzeitig relativiert Elf-Scharfrichter-Expertin und Autorin Judith Kemp: „Die Einschränkungen der Zensurbehörde hinderten sie daran, jenen kritischen Ton zu entwickeln, den wir heute mit dem Kabarett assoziieren“.

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Thomas Steierer