Die Stimme der 68er: Uwe Timm

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Uwe Timm © Michael Döschner-Apostolidis

Geboren 1940 in Hamburg, absolviert Uwe Timm zunächst eine Kürschner-Ausbildung, um den väterlichen Betrieb zu übernehmen, und legt dann sein Abitur am Braunschweig-Kolleg ab, wo er Benno Ohnesorg kennenlernt. Die beiden Brüder im Geiste gründen das Magazin teils-teils, in dem Timm eine kurze ästhetische Abhandlung sowie erste Gedichte abdruckt. Timm studiert in München und Paris, wo er in Berührung mit den Existentialisten kommt, Philosophie und Germanistik. Er engagiert sich von 1967 bis 1969 im SDS und beteiligt sich an der Besetzung der Münchner Universität. Seine literarischen Fähigkeiten entwickelt er derweil mit dem Verfassen von Agitprop- und Straßentheaterstücken weiter. 1971 promoviert er mit einer Arbeit zu Albert Camus und schlägt fortan eine Laufbahn als freier Schriftsteller ein.

Der Reiz des Existentialismus liegt in seiner Ideologiefreiheit begründet (s. a. Kap. Der Existentialismus als Humanismus). Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst – er leitet sich aus keinem übergeschalteten Dogma ab, sondern ergibt sich aus der freien individuellen Entscheidung. Dass diese Entscheidung auch jenseits der jugendlichen Erziehung und Sozialisierung getroffen werden kann, jeder Mensch zu jeder Zeit frei darin ist, seine Stellung in der Welt zu bestimmen, war eine der reizvollen Überlegungen der Existentialisten, an die Timm sowohl künstlerisch als auch wissenschaftlich anzuschließen wusste. Gleichermaßen spiegelt sich in der existentialistischen Haltung gegenüber der Sinnlosigkeit der Welt – wie sie in den beiden Weltkriegen evident wurde – und der radikalen Diesseitsbejahung die revolutionäre Gesinnung der Nachkriegssöhne. Aus dieser Weltsicht ergibt sich einerseits eine individuelle Lösung: das Credo der Selbstverwirklichung. Und andererseits ein politisches Ideal: die Vorstellung einer freien Gesellschaft.

Timm ist Mitbegründer der Wortgruppe München und Mitherausgeber der Zeitschrift Literarische Hefte. Sein lyrisches Debüt gibt er 1971 mit dem Gedichtband Widersprüche. 1973 bis 1981 engagiert er sich in der DKP – er distanziert sich von der Partei wegen deren unkritischer Haltung gegenüber der UdSSR. Die Erfahrungen der Studentenrevolte prägen eine Vielzahl seiner Werke. In seinem 1974 erscheinenden Debütroman Heißer Sommer verarbeitet er die Geschehnisse unmittelbar anhand der Entwicklungslinie des Protagonisten Ullrich, der auf Abwegen der bürgerlichen Vernunft seines Elternhauses schließlich auch sein Studium aufgibt und als Arbeiter die Revolution von unten befördern will. Auch in Kerbels Flucht (1980) geht es um einen Münchner Studenten, der als Taxifahrer jobbt und am System verzweifelt. Der Roman Rot (2001) handelt wiederum von einem Altkommunarden und beleuchtet die Vergänglichkeit politischer Ideale. Zu dieser Trilogie gesellt sich sein spätes Werk aus dem Jahr 2005, Der Freund und der Fremde, das sich nochmals intimer mit den '68ern auseinandersetzt: Es thematisiert Timms frühe Freundschaft mit dem auf der Anti-Schah-Demo erschossenen Ohnesorg und ist zugleich ein Porträt der Jugend in der Bundesrepublik in den 1960er-Jahren, die von Theoriehunger und Idealismus getrieben wurde – und sich in einem Kollektiv zusammenfand, in dem man sich gegenseitige Philosophen und Dichter rezitierte.

Doch auch in seine Begeisterung für fremde Kulturen fließt der Geist der Revolte ein, wie in Morenga (1978), einem Roman über den schwarzafrikanischen Befreiungskrieg. In seiner Gesamtheit zeichnet das Werk Timms ein vielseitiges Porträt über unser Nachkriegsdeutschland (Die Entdeckung der Currywurst, 1993), in dem sich ironische Bemerkungen über den absurden Alltag mit politischen und sozialkritischen Betrachtungen verschränken. In Am Beispiel meines Bruders verhandelt Timm im Besonderen die deutsche Erinnerungskultur und die NS-Zeit. Seine schriftstellerische Vielfalt bekundet sich jedoch auch in seiner Kinder- und Jugendliteratur, darunter erfolgreich verfilmt Rennschwein Rudi Rüssel (1989).

Verfasst von: Monacensia im Hildebrandhaus / Dr. Nastasja S. Dresler

Sekundärliteratur:

Hielscher, Martin (2007): Uwe Timm. München.

Weisz, Sabine (2009): Die 68er-Revolte im Werk von Uwe Timm. Marburg.