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Toni Netzles aufregende Zeit als Wirtin im „Alten Simpl“

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Toni Netzle zeigt ein Bild von sich mit Elvis Presley und Vera Tschechowa am 4. März 1959 im Moulin Rouge in München. Foto: Alex Gernandt

Was macht man, wenn man als Schauspielerin und geschiedene Mutter mit zwei Kindern von Gastronomie keine Ahnung hat und außer gut kochen nichts kann? Das erzählt Toni Netzle, die ihre Ausbildung an der Münchner Falckenberg-Schule absolvierte, in ihren illustren Lebenserinnerungen Mein alter Simpl, in denen sie von zahlreichen Erlebnissen mit Promis berichtet: Man springt ins kalte Wasser, immer wieder.

So geschehen am 1. September 1960, als sie den „Simpl“ (die Wirtschaft gibt es noch heute) übernahm, weil sich der Schnapsfabrikant Georg Hemmeter, dem seit 1894 das Haus in der Türkenstraße 57 in München-Maxvortadt gehörte, nur Toni Netzle als neue Wirtin vorstellen konnte - nach circa 26 Pächtern, die außer der berühmten Kathi Kobus nach kurzer Zeit alle wieder aufgaben. Der Gedanke war goldrichtig: Die Neue bescherte dem „Simpl“ 32 Jahre lang eine ungeahnte, turbulente Blütezeit. Er wurde zu ihrem Wohnzimmer, in dem sich „die Gäste so zu verhalten hatten, dass die Wirtin sich wohlfühlte“, was nicht immer gelang. Auch das mit dem Bezahlen für Speis und Trank nicht, eine Villa hätte sie sich kaufen können von den unbeglichenen Schulden.

Oder man öffnet zum ersten Mal eine Champagnerflasche (Netzle ist Antialkoholikerin), als es die Ex-Kaiserin Soraya, um 1961 zu Gast im „Alten Simpl“, nach Champagner dürstete, der sich dann leider in ihren schönen Ausschnitt ergoss. Sie nahm es lachend, es war der Beginn einer Freundschaft. Seit Ende 2001 liegt sie im Familiengrab auf dem Münchner Westfriedhof.

Oder man engagiert für einen Auftritt im „Simpl“ - ohne zu wissen, wie das Honorar auftreiben - ein berühmtes Gesangsduo der 1960er Jahre, das eigentlich niemals deutschen Boden betreten wollte, und bringt damit die Gäste zum Toben: Esther (lebt heute in Hamburg, gibt wieder Konzerte) und Abi Ofarim (seit 1972 in München, 2018 dort beerdigt).

Toni Netzle schaffte das trotz einiger Hindernisse, wie vieles, was sie sich vornahm, denn sie fand Unterstützer, kannte die richtigen Leute. Manche lebten nicht mehr, so ihr einer Großvater („Königlich Bayerischer Hoflieferant") oder der andere (baute die Technische Hochschule) und Bäcker Karl (Münchens berühmteste Bäckerei). Die Tatsache, dass sie aus einer der ältesten Münchner Familien stammt, trug dazu bei, dass man den von ihr gewünschten Namen „Simplicissimus“, unter dem schon Kathi Kobus die Gastwirtschaft geführt hatte, genehmigte. Um auszudrücken, dass es sich dabei um den alten Simpl handelte, nannte sie ihr Wohnzimmer fortan „Alter Simpl“.

 

Das Simplicissimus 1932 (c) Archiv Monacensia. Rechts: Die berühmte Simplicissimus-Bulldogge, gezeichnet von Thomas Theodor Heine (1926, 31, Heft 1)

Als Einstandsgeschenk bekam sie vom Vater des Komponisten und Produzenten Ralph Siegel einen großen Flügel mitsamt Barhockern, so dass man rundherum sitzen konnte. Schon zwei Tage danach spielte Jazz-Legende Duke Ellington darauf. Später, als es 1968 nach dem Umbau des „Simpl“ keinen Flügel mehr gab, bekam Netzle ein Klavier von Mildred Scheel geschenkt, auch sie eine besondere Freundin der roten Toni, wie man sie wegen ihrer politischen Gesinnung nannte. Mildred Scheel war Stammgast, auch noch als sie First Lady wurde und nach Bonn zog. Oft rief sie spät nachts im Lokal an, das bis 4 Uhr früh geöffnet hatte, so dass Netzle vor 6 Uhr nicht ins Bett kam. Doch zum Mittagessen ihrer Kinder saß sie mit am Tisch und frühstückte.

Als vielgereiste Schauspielerin (sie spielte auch während ihrer Simpl-Zeit) hatte Netzle jede Menge Kontakte. Mit der Zeit kamen sie alle, die Schauspieler und Musiker, auch Arbeiter, Studenten, Jugendliche. Nicht wenige von ihnen wurden später bekannte Persönlichkeiten in öffentlichen Positionen.

Als einer der ersten Promis kam Schauspieler Curd Jürgens. Er genoss es, dass er keinen Champagner trinken und Kaviar essen musste, sondern wunschgemäß Schmalzbrot und Bier bekam. Das sprach sich herum. Die Schauspieler Ernst Stankowski und Gerd Fröbe traten ohne Gage auf. Mario Adorf, Klaus Maria Brandauer, Hannelore Elsner, Blacky Fuchsberger, Udo Jürgens, Robert de Niro und Harvey Keitel (Netzle erkannte sie anfangs nicht, wollte beide rausschmeißen, sie sahen aus wie Penner; wer allerdings ihre weiblichen Bedienungen anfasste, flog für immer), Maria und Maximilian Schell, Helmut Dietl, Luggi Waldleitner, Carl Orff, Wolfgang Sawallisch und viele andere wurden Gäste, ebenso Politiker wie Willy Brandt, Horst Ehmke, Hans-Dietrich Genscher, Annemarie Renger, Franz Josef Strauß.

Netzles Faschingsbälle für Groß und Klein hatten Kultstatus, brachten immer ein volles Haus. Rudi Carrell zauberte für die Kinder, Fürstin Gloria warf sich mit ihren dreien ins Getümmel. Großer Überraschungsgast war einmal Gina Lollobrigida bei einem Nasenball. Jeder maskierte sich nur mit einer Nase. Lollo bekam eine rote von Netzle. Die Verehrer lagen ihr zu Füßen, ohne sie zu erkennen, sie flirtete ausgiebigst. Niemand durfte wissen, dass sie heimlich in München war.

Der „Alte Simpl" heute

Es gab noch eine kleine Bar, die ideal war für konspirative Gespräche und Handlungen. Hier fühlten sich die Gäste zuhause, hier weinte sich Terrorist Andreas Baader an Tonis Brust aus, saß der österreichische Literaturpapst Friedrich Torberg am großen Tisch, nahezu auch die ganze deutschsprachige Dichter- und Journalistenelite sowie Jungfilmer (Alexander Kluge, Klaus Lemke, Edgar Reitz, Peter Schamoni, Volker Schlöndorff), die bei ihr groß wurden.

Zahlreiche Premieren feierte man im „Simpl“, auch 1968 Brigitte Bardot anlässlich ihres Films Man nennt mich Shalako. Sie brachte halb München durcheinander, alle wollten dabei sein bei der rauschenden Party, boten sogar Geld. Dabei sein wollte auch Filmproduzent Bernd Eichinger beim Geburtstagsfest zu seinem Dreißigsten im „Simpl“, doch ihm wurde schlecht, er erlitt einen Kreislaufkollaps, zum Glück bei Netzle in der Küche. Man brachte ihn nach Hause und niemand bemerkte in dem Gewühle seine Abwesenheit beim Happy Birthday um Mitternacht. Beim Besuch von Fußballer Gerd Müller brach im Lokal alles zusammen. Jeder wollte ihn anfassen.

Es gibt noch eine besondere Geschichte mit Elvis Presley und eine über Netzles jüdische Garderobiere, die zu Tränen rührt, sowie über die Schwabinger Krawalle 1962 und über den Tag, da Toni Franz Josef Strauß und die Spiele der Macht kennenlernte, sowie viele weitere interessante Anekdoten in ihrem spannenden Buch mit unzähligen Fotos, auf denen man sie oft so herzhaft lachen sieht.

Auch beim Abschied, obwohl ihr zum Weinen zumute war. Am 15. Juli 1992 verließ Toni Netzle endgültig den „Alten Simpl“, die Legende, die Leidenschaftliche, Kämpferische, Mitfühlende, Selbstkritische, die, wie die Freizeitrevue 1992 schrieb, „liebenswürdig und manchmal so bissig wie ihr Wappentier“ war (der rote Simpl-Hund). Sie konzentrierte sich nun wieder mehr aufs Spielen, wie 2008 auf der Luisenburg (Wunsiedel) mit 2.000 Plätzen in Zwölfeläuten, einem Stück über die Nazizeit.

Am 25. März wurde sie 90! Sie wollte mit Freunden feiern, Corona hat's vereitelt. So trank sie wohl mit Ole, ihrem Lebensgefährten seit fast 58 Jahren, ihren obligatorischen Tee.