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16.02.2018, 14:24 Uhr
Fridolin Schley
Text & Debatte
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© Juliane Brückner

München, menschenleer. Ein Foto und seine Geschichte. Von Fridolin Schley

Der Stachus verwaist. Der Hirschgarten menschenleer. Die Theresienwiese ohne Festzelte, die Maximilanstraße ohne einen einzigen Autofahrer. Die Leere auf den Straßen und Plätzen gemahnt an ein München, wie man es nicht kennt, still und leer. Die Stadt hält den Atem an.

Für sein Buch Silent Space München (Verlag Anton Pustet, 2016) hat sich der Fotograf Jens Riecke aufgemacht, die hellen und die dunklen Ecken der Stadt einzufangen. Er zeigt in beeindruckenden Bildern die Straßen und Plätze Münchens unbeseelt, aber nicht seelenlos. Die Autorinnen und Autoren Karin Fellner, Andrea Heuser, Katja Huber, Christoph Lindenmeyer, Birgit Müller-Wieland, SAID und Fridolin Schley haben dazu Texte verfasst, Gedichte, Gedanken, Miniaturen. Wir veröffentlichen eine Kurzgeschichte von Fridolin Schley.

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Die Stadt nach den Menschen

Draußen dämmert es schon, als ich – eigentlich nur, um mir die Zeit bis zum Besuch eines Theaterstücks zu vertreiben – an einem späten Nachmittag Ende Januar durch die schwere Tür des Residenzmuseums am Max-Joseph-Platz trete. Kein anderer Besucher scheint sich hierher verirrt zu haben; nur zwei Gestalten mit unscharfen Gesichtern, die unbeweglich hinter der Eingangstür lauern, kann ich nach einem Moment, in dem meine Augen sich an das düstere Zwielicht im Inneren gewöhnen, als Bedienstete erkennen, die mich wie erstarrt und mit weit aufgerissenen Eulenaugen durch die Dunkelheit des Flurs hindurch stumm ansehen und nur erschrocken die Köpfe schütteln, als ich andeute, ein Eintrittsgeld entrichten zu wollen. Ich überlege, ob die beiden wohl miteinander sprechen, wenn niemand hier ist außer ihnen, oder ob sie dann auch nicht existieren, und steige mit langsamen Schritten, die bei jeder Stufe schwerer werden, die Treppe in das mittlere Geschoss hinauf.

Irgendwo weit entfernt heult ein Tier.

Vielleicht liegt es an der mangelnden Beleuchtung und der empfindlichen Kühle, dass die eigentlich prächtig verzierten Raumfluchten und Königsgemächer, das antike Mobiliar und die in Vitrinen ausgestellten Kronen, Porzellan- und Schmuckstücke auf mich unerwartet matt, ja wie von Moder und Sporen überzogen wirken. Aus der stuckumrandeten Deckenaufhängung eines Kronleuchters rieselt fast unsichtbar feiner Putz auf die im Windzug leise klingenden Kristalle, die schon wie von leichtem Schnee bedeckt sind, und im Charlottenzimmer verrät über der Chaiselongue ein eingegilbter Abdruck an der Wand, dass hier wohl lange Zeit ein Gemälde seinen Platz gehabt hat. Die Wappentapete ist an den verblichenen Druckstellen spröde gewellt und eingerissen.

Etwas Beunruhigendes geht von diesem sich wie in einem langsamen Prozess fortschreitenden Verfalls befindlichen Ort aus, an dem nichts zu hören ist außer dem nervösen Surren einer immer wieder flackernden Glühbirne. Mehrfach erschrecke ich vor dem lauten Hall meiner eigenen Schritte auf dem Parkett.

Auf dem glatten Schachbrettboden des ehemaligen Schwarzen Saals liegt bereits Abendtau, als ich ihn, um diesen Räumen schnell wieder zu entkommen, bald Richtung Ausgang überquere und dabei Schuhabdrücke hinterlasse, da bleibt mein Blick inmitten der flüchtenden Bewegung an einem Dutzend Schwarzweißfotografien hängen, die zwischen den Fenstern zum Opernplatz offenbar als kleine Sonderexposition gruppiert sind.

Sie zeigen Gebäude, Orte und Sehenswürdigkeiten des Hofviertels aus der unmittelbaren Umgebung, jeweils nicht weiter als einen Steinwurf von dort entfernt, wo ich mich gerade befinde. Der Pavillon in der Mitte des Hofgartens, die Feldherrnhalle und das Cuvilliés-Theater, die Statue des sitzenden Königs auf dem Max-Joseph-Platz und dahinter die Arkaden der alten Post, alles lang vertraute, unzählige Male gesehene, aufgenommene und von Millionen Touristen in die Welt verschickte Ansichten. Und doch wirken sie zugleich seltsam fremd und entrückt durch den weiten Winkel, den der Fotograf gewählt hat, durch die starken Schwarzweiß-Kontraste und, wie ich erst nach längerem Hinsehen feststelle, die Merkwürdigkeit, dass auf keiner der Fotografien – obwohl es sich doch um die mit am meisten besuchten Orte der Stadt handelt – auch nur ein einziger Mensch abgebildet ist. Als sei eine fürchterliche Verheerung über die Bevölkerung gekommen, so leer, spurlos ausgestorben und dabei von schöner, unheimlicher Anmut beseelt wirken diese verlassenen Stätten einstiger Lebendigkeit und menschlicher Errungenschaft.

Am längsten sehe ich auf das letzte Bild, die Außenaufnahme jenes Königsbaus, in dem ich mich selbst in diesem Moment aufhalte, studiere genau den an einigen Stellen schon lichten Pflastersteinboden des Vorplatzes, die erleuchteten Laternen auf ihren wuchtigen Quadersockeln und die beiden erschlafften Fahnen auf dem verkürzten obersten Geschoss, das dem Gebäude das Gepräge einer gewaltigen Krone gibt.

Ich überlege noch, woher das Licht durch den schon bedrohlich eindunkelnden Himmel fällt und die Fassade trifft, dabei ihre feine, dichte Linienstruktur fast überscharf sichtbar werden lässt, die Bogen- und Arkadenfenster, die gemauerten Rahmenkränze, Vorsprünge und Dachbalustraden, und schließlich meine ich, während ich langsam immer näher mit dem Gesicht an das Bild heranrücke und die Augen zusammenkneife, um seine Einzelheiten noch genauer ausmachen zu können, in einem Fenster des rechten mittleren Traktes einen Schatten zu erkennen, die winzige Silhouette eines Mannes, der leicht vorgebeugt dazustehen scheint, wie um etwas an der Wand zwischen den Fenstern zu betrachten, und neben ihm, erst im letzten Moment erkennbar, ein zweiter Schatten, der von hinten an ihn herantritt und mit etwas Länglichem, das wie ein Beil oder Hammer aussieht, zum Schlag ausholt.