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Kultur trotz Corona: „Überlandfahrt“. Romanauszug von Annegret Liepold

Annegret Liepold (*1990) studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Politikwissenschaft in München und Paris. Als wissenschaftliche Mitarbeitern wirkte sie am Editionsprojekt „Spanische und hispanoamerikanische Lyrik“ am Lehrstuhl für Komparatistik der LMU München mit. Ihre Kurzgeschichte Die Schwäne war für den New Voices Award des Internationalen P.E.N.-Zentrums nominiert. 2018 war sie Teilnehmerin der Bayerischen Akademie des Schreibens, 2019 wurde sie mit dem Leonhard und Ida Wolf-Gedächtnispreis der Stadt München für ihr Romanprojekt Überlandfahrt ausgezeichnet, 2020 wurde sie 1. Preisträgerin beim LITERATUR UPDATE-Wettbewerb „Den Tod schreiben“.

Mit dem folgenden unveröffentlichten Auszug aus ihrem aktuellen Romanprojekt beteiligt sich Annegret Liepold an der Fortsetzung von Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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Überlandfahrt (Auszug)

 

Mit 17 Jahren schändet Franka den jüdischen Friedhof ihres Heimatdorfes in Mittelfranken. Sie und ihre beiden Mittäter kommen vors Jugendgericht, doch Franka hat den Rückhalt ihrer Tante, June, und des Dorfpolizisten, die behaupten, sie sei nicht vor Ort gewesen. Während die anderen beiden verurteilt werden, geht Frankas Leben so weiter, als sei nichts geschehen. Erst 10 Jahre später, sie besucht als angehende Lehrerin den NSU-Prozess in München, kommen Erinnerungen und Gefühle ungebremst zurück: an den Druck, die Falschaussage der beiden Erwachsenen zu decken, die nicht wahrhaben wollten, dass Franka Überzeugungstäterin und nicht Mitläuferin war, sowie an die Wut und Unsicherheit, die sie in die rechtsradikale Szene geführt hatten. Franka fährt zurück und beginnt, sich ihre eigene Geschichte und die Geschichte des Dorfes genauer anzusehen. (Kurzzusammenfassung)

 

Vor den Fenstern ist die Landschaft namenlos. Wenn Franka den Blick auf einen Punkt knapp unterhalb des Fensters richtet, greifen Farben und Formen so schnell ineinander, dass in ihrem Gehirn nur Brei ankommt. Aber auch, wenn sie ihren Blick wieder in die Ferne richtet, stellt sich keine Ruhe ein. Hektisch und unterschiedslos wechseln sich Felder und Dörfer miteinander ab. Erst ab dem Altmühltal wird die Landschaft vertraut. Zwischen Eichstätt und Nürnberg ist eine Stufe im Gelände, die Fränkische Alb fällt hier steil ins Altmühltal ab. Im Zug bekommt man davon wenig mit, Tunnel reiht sich an Tunnel. Während das blaue Licht der Bildschirme die Gesichter um sie herum alt werden lässt, erinnert sich Franka an die Wochenenden mit ihrem Vater, als sie ausgestattet mit Hammer und Meißel versucht hatten, in dem Kalkstein, der sich jenseits des Tunnels erstreckt, die Geschichte der Erde freizulegen. Ausgerüstet mit Sonnenhüten, Wasserflaschen und einem halbmondförmigen Zelt, in dem sie vor der Sonne geschützt, mitten im Staub Brotzeit machten.

An Ausflugs-Wochenenden weckte ihr Vater sie in der Dunkelheit, die Müdigkeit hing noch lange in ihrem Körper, jedes Glied fühlte sich schwer an. Erst wenn sie im Auto saßen und der Himmel sich rosa färbte, wurde sie auf einen Schlag hellwach, fühlte sich aufgekratzt. Mit aufgerissenen Augen blickte sie in die morgendliche Dämmerung. Ihr Vater, der schon lange vor ihr aufgestanden war, Brote geschmiert und Tee gekocht hatte, summte. Im Auto lief das Radio, weil es, wie ihr Vater sagte, wichtig sei zu wissen, was ‚in der Welt da draußen‘ los war. Er summte zu Nachrichten, denn an diesen Samstagen und Sonntagen, die von einem anderen Rhythmus als der Alltag bestimmt wurden, war ihr Vater nicht müde oder angestrengt, sondern leicht und die Radiostimme formte das Grundrauschen zu Abenteuern.

Was sie in den Steinbrüchen fanden, war buchstäblich Nichts. Selten stießen sie auf echte Versteinerungen. Häufig war ihr Fund nur ein Hohlraum zwischen den Steinen, ein schneckenförmiges Negativ ehemaligen Lebens. Weil ihr Vater sich nicht für Bücher interessierte, die einem sagten, wie man die Welt zu sehen habe, durfte sich Franka ausdenken, wie das Tier, dessen Körper einen Abdruck im Stein hinterlassen hatte, geheißen haben könnte. Ihr Vater nahm sie dabei sehr ernst, sprach von Zeugnissen der Vergangenheit, für die sie die Stellvertreterschaft übernahm, und erklärte ihr, dass Wissenschaftler mithilfe solcher Spuren tatsächlich nachempfinden konnten, wie die Vergangenheit ausgesehen haben mochte.

 

Als der Zug den Tunnel verlässt und die Gesichter wieder blass werden, kneift Franka die Augen zusammen und schließt sie dann ganz.

Sie hatte dafür keine Worte gehabt, als sie mit ihrer Mutter in den ersten und einzigen Urlaub nach dem Tod ihres Vaters gefahren war. Als die erzwungene Zweisamkeit die Abwesenheit des Vaters umso schmerzlicher heraustreten ließ. Lustlos wanderten sie bei 45 Grad durch die Steinlandschaft Pompeis und Franka musste an die Steinbrüche zuhause und die Begeisterung des Vaters denken. Sie las etwas zu laut aus dem Reiseführer vor, der berichtete, wie mit Hilfe der Wissenschaft Medusa über Pompei gekommen war und nachträglich alles Lebende in Gips verwandelt hatte. Sie verstand damals nicht, was sie las, und ihre Mutter sagte kein Wort dazu, vielleicht wünschte sie sich, dass Franka endlich schweigen würde. Es war schwer erträglich, an den Gipsmenschen vorbeizulaufen, die zusammengekauert auf den Tod warteten und Zeugen einer Katastrophe geworden waren, für die es nur aus der Ferne Worte gegeben hatte. Vielleicht hatte sich ihre Mutter so wie Franka gewünscht, endlich selbst tot zu sein.

 

Den Hohlraum, den ihr Vater hinterließ, konnte nur eine füllen: Tante June. Franka sah sie zum ersten Mal, als ihr Vater bereits im Krankenhaus lag und jeder Tag ihm etwas von dem nahm, was Franka so an ihm mochte, die Stimme, das Lachen, das aufmunternde Blinzeln. Frankas Vater hatte keine Zukunft und June keine Vergangenheit. Bis dahin hatte Franka sie nur von Bildern und natürlich den Erzählungen ihres Vaters gekannt, in denen er ‚Jutta‘, wie er sie noch nannte, furchtlos und voller Ideen zeichnete. Wenn Franka im Fernsehen Pippi Langstrumpf sah, dachte sie an Tante Jutta in Kanada, die dort wahrscheinlich auch einen Limonadenbaum hatte.

Aber sie war ganz anders. Der Moment, als Franka sie im Krankenhaus neben dem Bett ihres Vaters stehen sah, war der einzige, in dem sie nicht in einer Rauchwolke steckte. „Hey there“, hatte sie gesagt und als Franka die tabakraue Stimme hörte, die sich an ihr Gegenüber wie eine streunende Katze anschmiegte, ahnte sie, dass von nun an das Sterben ihres Vaters weniger schlimm sein würde.

Der Rauch hing an June wie ein Schatten, der zu nah gekommen war. So, als wolle sie nicht gefunden werden oder als habe sie etwas zu verbergen. Vielleicht war es auch die Scham, weil sie Mann und Kinder auf einem anderen Kontinent zurückgelassen hatte, dabei war Andrew, wenn June von ihm erzählte, immer noch love of her life, Liebe noch übers geteilte Leben hinaus. Aber da war noch diese andere Liebe, für die es keinen richtigen Namen gab, ein Vermissen, das stärker war und sie quälte.

Tante June hätte das nicht machen dürfen, sie hätte dort bleiben müssen, sagte Ingrid. Und frag besser nicht, sagte Ingrid auch. Nie nach der Vergangenheit fragen, nach Kanada schon gar nicht, wo Tante June die Scheidung eingereicht hatte, um zurückkommen zu können.

Die Vorsicht vor der Vergangenheit hatte sich in ihren Namen geschlichen. Keiner sagt „Tschuhn“, wie Andrew sie genannt hatte, über die fremden Silben stolpernd, „mei-ne June“, und vielleicht war das die große Befreiung gewesen, June zu sein und nicht mehr Jutta, der ganze Nachkrieg fiel da von der 20jährigen ab. June das war Gegenwart, hey june, war frühe 70er, war Freiheit. Ende der Dorfenge im Kopf und raus nach Alberta, British Columbia, auf eine Farm, die später verkauft werden musste, weiter nach Toronto, was noch besser war, weil Stadt, und schließlich zurück ins Dorf, Deutschland, wo sie nicht mehr das fand, was sie zurückgelassen hatte, immerhin aber gerade noch rechtzeitig zur Beerdigung ihres Cousins kam, mit dem sie in der Kindheit und Jugend alles geteilt hatte. Außerdem gab es hier soziale Absicherung, für die, die immer nur „dear June“ oder „Mum“ gewesen war, weil sie sich aber mit Mitte Vierzig nicht mehr einfach in Jutta zurückverwandeln konnte, wurde sie zu ‚Tante June‘. Ganz deutsch, da war kein Fünkchen kanadische Vergangenheit mehr im Namen, nur ein Fünkchen Andrew, was gut war, damit sie ihn nicht ganz vergaß. Fürs übrig gebliebene Leben also Ju-ne, so ausgesprochen, dass sich die Silben an das leiernde Auf- und Ab der Anrede anschmiegten. Hoch, runter, hoch, runter: Tan-te Ju-ne, dunkel und schwer und das Zentrum immer im Rauch.

„Hey there“, hatte June gesagt und Franka würde gerne die Zeit zurückdrehen und ihr noch einmal das erste Mal gegenüberstehen. Und von dort an alles anders machen. Wie so oft in den letzten Jahren, würde sie June gerne anrufen und fragen, wie es ihr geht. Aber sie hat die Nummer vorsichtshalber gelöscht, gleich in der Woche nach der Gerichtsverhandlung, als sie das Gefühl hatte, das Einzige, was sie tun konnte, um etwas wieder gut zu machen, war, nicht zurückzublicken. Es ist so lange her, dass die Nummer wahrscheinlich nicht einmal mehr die gleiche wäre.

Frankas Kopf schlägt gegen die Scheibe. Sie öffnet die Augen und erkennt die grünliche Kuppel des Nürnberger Bahnhofs. Sie versteht auf einmal, was ihr Vater mit den Ausflügen in den Steinbruch hatte sagen wollen: dass jedes Lebewesen Spuren hinterlässt, aber der Mensch sich entscheiden kann, welche Spuren das sind. So banal. Als der nächste Halt, Erlangen, angekündigt wird, holt sie ihren Rucksack aus dem Gepäcknetz. Sie dachte, dass man Spuren verwischen und einfach neu beginnen kann. Aber die Wut ist immer noch da, sie hat sie jahrelang versteckt und heute war sie herausgekrochen. Wenn sie an Jaroš denkt, wird sie sich selbst unheimlich. Das war nicht Ich, würde sie gerne sagen, aber sie weiß, zu was sie fähig ist. Sie hat es nur verdrängt.