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Kultur trotz Corona: „Dagegen die Elefanten!“ (1). Von Dagmar Leupold

Dagmar Leupold (*1955 in Niederlahnstein) studierte Germanistik, Philosophie und Klassische Philologie in Marburg, Tübingen und New York und lebt als freie Autorin in München. Für ihr schriftstellerisches Werk hat sie etliche Auszeichnungen erhalten, darunter den Tukan-Preis für den Roman Unter der Hand. Sie leitet das Studio Literatur und Theater an der Universität Tübingen. Ihr Roman Die Witwen war für den Deutschen Buchpreis nominiert. Ihr letzter Roman Lavinia erschien im August 2019. Ihr aktuell erscheinender Roman Dagegen die Elefanten! (2022) handelt von einem Mann in der Garderobe, einem Helden des Alltags, dem niemand dankt.

Mit dem folgenden unveröffentlichten Romanauszug, den wir in zwei Teilen publizieren, beteiligt sich Dagmar Leupold an der Fortsetzung von Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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Dagegen die Elefanten! (Auszug)

Im Februar

 

Da ist er.

Herr Harald lässt seinen Blick über die Mäntel, Schirme, Rucksäcke, Aktentaschen und Einkaufstüten schweifen, deren vorübergehender Hüter er ist. Inventur. Am Geruch erkennt er den Unterschied zwischen Reichtum und Behauptung. Er könnte es beschreiben – aber wem und wozu? Sein Einsatzort: Die Oper, Balkon links, und, wenn Not am Mann ist, die Philharmonie, im unwirtlichen Untergeschoss. Ein Wald aus Gestänge, wie Totholz. Als Einspringer, wenn auch selten, übernimmt er zusätzlich einen Garderobenabschnitt im Schönsten Theater der Stadt. Am liebsten die Nummern 700 bis 850, genau gegenüber der zweiflügeligen Eingangstür und der Vorfreude in den Gesichtern der Gäste. Meist ist er bei Klavier solo oder Kammermusikabenden im Einsatz, die feierlich sind, ohne einzuschüchtern, darum liebt er sie. Zugig ist es dort in der Garderobe, deshalb ist er besonders froh um die weißen, vornehm fadenscheinigen Handschuhe, die er, der Schuppenflechte wegen, trägt. Wie ein Archivar, der Kostbares verwaltet. Warme Hände, warmes Herz.

Einsam wacht, wie es im Weihnachtslied heißt, wäre die zutreffendste Beschreibung für das, was er tut. Würde er, fragte jemand nach seiner Arbeit, womöglich sagen. Überhaupt hat er schöne Antworten auf nicht gestellte Fragen parat, schlanke Gedanken. Schlank, denn sie haben eine gute Figur. Er denkt zum Beispiel über den Unterschied zwischen Hintergrund und Untergrund nach. Aussprechen lassen sich solche Gedanken jedoch nicht, sie würden bei Luftkontakt zerstäuben, so flaumig sind sie. Lange denkt er an diesem Abend über das Wort „Sitzfleisch“ nach – Zeit gibt es im Übermaß –, und wartet, wie an vielen anderen Abenden, die ersten Klänge ab, die wie durch ein Federkissen gedämpft zu ihm dringen, bevor er sich auf einen in den äußersten Winkel verbannten Schemel setzt. Öffnet, wenn nicht das gelegentlich mitgebrachte Wochenblatt, das im Hausflur ausliegt, die Diensttasche, ein altes Stück Leder mit zerkratzten Metallschnallen, entnimmt ein heftgroßes Buch und notiert dies und das. Besser gesagt: Der Stift tut das. Zum Beispiel, den Bildern einer Fernsehsendung über Vulkane und Erdbeben am gestrigen Abend nachhängend: Die Lavaschlange kringelt an der Bergflanke hinab wie eine Haarlocke im Nacken einer Frau. Dann steckt er den gespitzten Bleistift zurück in den Gummizug seines Notizbuchs. Der Einband aus Kunststoff fühlt sich lebendig an, weich, das spürt er durch die Handschuhe hindurch, und es ist Nähe genug. Herr Haralds Gesicht, gegen Ende der Woche mit leichtem Bartschatten – Rasur nur am Wochenende –, leuchtet inmitten der im gedimmten Licht verschwimmenden Mäntel. Wie ausgeweidet hängen sie an den wuchtigen Haken. Herr Harald hat einen Nachnamen erst nach Dienstschluss oder vor Dienstantritt. Und möglicherweise heißt er nicht einmal Harald, es hat sich so eingebürgert, auch in ihm. In der Oper kontrolliert er die Eintrittskarten, denn niemand darf an seiner Garderobe etwas abgeben, das nicht zum Bereich Balkon links gehört. Wenn alles seine Richtigkeit hat, übergibt er, weiß behandschuht, die gestanzte Messingmarke mit der Nummer an den Eigentümer des noch körperwarmen Mantels. Frauen verstauen die Plakette behutsam, als wäre sie eine Oblate, die sie später auf ihre Zunge zu betten gedenken.

Er liebt den Unterschied zwischen den ruhigen Stunden, wenn im großen Kessel des Opernhauses Schicksale ausgesungen werden, und den geschäftigen, wenn alle Besucher, leicht erhitzt, einen dünnen Schweißfilm auf Stirn und Schläfen, noch halb in der gerade bezeugten und überwundenen Intrige oder dem gelösten Liebesknoten gefangen steckend, nach ihrem Eigentum verlangen, die Nummernschildchen mal sanft, mal herrisch auf der zerschürften Glasfläche der Theke deponieren und gegen andere Anwärter verteidigen, indem sie sie möglichst unauffällig, gleichwohl auffordernd, in seine Richtung schieben. Wie ein Anrecht, sie haben schließlich viel mitgemacht.

Herr Harald hatte einen Trick erfunden, wie schwere Mäntel schadlos von den Haken gelöst werden können. Ohne dass die Schlaufen reißen oder der Kragen leidet. Er packt den Mantel von hinten im Schulterbereich, so als wolle er einen Delinquenten verhaften, mit sehr festem Griff, und schiebt ihn hinauf. Bis er über der oberen Halterung der Garderobe schwebt, dann lässt er ihn auf sich zufallen, stellt sich dabei vor, bei einer Ohnmacht einzuspringen, und achtet sorgsam darauf, den Mantel nicht ungebührlich eng in die Arme zu schließen. Das gelingt ihm mit bis zu drei Mänteln auf einmal. Die Schlange vor seinem Garderobenbereich schrumpft am schnellsten. Neugierig ist er jedes Mal auf die letzte Person, deren Habseligkeiten im Handumdrehen so ergreifend vereinsamen. Alle benachbarten, schützenden Mäntel und Jacken sind ausgegeben, nur dieser eine hängt am Messinghaken, mit gebrochenem Genick. Vielleicht – hoffentlich! – der einer jungen Frau, sie nimmt ihn entgegen, verträumt, die letzten im Duett vorgetragenen Liebesschwüre klingen und schwingen in ihr nach, und sie hat gar nicht gemerkt, dass andere sich an ihr vorbeigedrängelt haben. Auch im Moment der Übergabe ist sie es noch, und sie übersieht Herrn Harald, der ihr den Mantel als Geschenk, ausgebreitet über beide Unterarme, zureicht. Dabei lugt ein Schal aus dem Ärmel hervor, wie ein Tierchen aus seinem Versteck. Herr Harald tröstet sich angesichts ihrer Unaufmerksamkeit mit der Vorstellung, dass sie beide an dasselbe denken, zum Beispiel – ja, warum nicht? – an das Erdbeben in der Sendung von gestern Abend. An die harten Kanten der Erdkrusten, die zusammenkrachen wie die Karren beim Autoscooter.

Gegenüber seiner Garderobe hängt das Porträt eines im vorigen Jahrhundert berühmt gewesenen Kammersängers. Er ist als Donnergott verkleidet, ein lächerlicher Metallkegel auf dem Haupt entstellt ihn noch mehr als das schurzähnliche Gewand, das ihm bis zum Knie reicht, wo es auf zu Stiefeln geschnürte Lappen stößt. Eine traurige Gestalt. Herr Harald schenkt dem Sänger jedesmal einen Blick, das gehört sich. Und malt sich aus, das Bild umzudrehen und die vernagelte Leinwand der Rückseite zur Schau zu stellen. Wie gesagt: ausmalen, nicht ausführen.

In der Garderobe herrscht striktes Essverbot. Es ist nicht mehr zu ermitteln, ob Herr Harald es sich selbst auferlegt hat oder ob es eine entsprechende Vorschrift seitens der Betreiber gibt. Aber wer sind sie, diese Betreiber? Was sind sie, außer unsichtbar? Ist es der Staat, die Stadt, ein Verein? Ein Mäzen? Eigentlich ist es gar kein Geheimnis, so schade. Es ist der Staat, der über dieses prächtige Haus mit Balkonen, Rängen und Logen bestimmt. Und der den gewaltigen Kronleuchter wartet, von dessen Absturz Herr Harald häufig träumt. Dann kracht er ins Parterre, und die abertausend Kristallscherben funkeln mit den Geschmeiden der Zerschmetterten um die Wette. Und doch bleibt der Betrieb dieses gewaltigen Opernleibs mysteriös, sein Atmen, sein Herzschlag, seine springlebendigen Nerven. Herr Harald ist im Besitz eines Vertrags. Punktum. Das hat einmal angefangen, als etwas anderes zu Ende gegangen war, nach Vorfällen, und jetzt gilt er. Er, Herr Harald, nimmt die Arbeit, die ihm jemand gibt, so einfach. Er isst nicht, nein, aber er gestattet sich Bonbons mit Eukalyptusgeschmack. Und weiß, dass Eukalyptuswälder lichterloh brennen, wenn man sie lässt. Und die Koalas zu fliegen beginnen. Vor Angst.

In einer geräumigen Schublade unter der Theke verwahrt Herr Harald den Grundkurs Italienisch I. Bella Italia. Das Buch hat ein Operngast vergessen abzuholen. Obwohl am Jutebeutel, in dem es steckte, eine Nummer angebracht war, hatte auch Herr Harald nicht rechtzeitig unter der Theke kontrolliert, ob alles ausgehändigt worden war. Und Bella Italia schließlich behalten wie etwas, das ihm zugedacht war. Im Buch lag noch der Kassenzettel, billig, das schöne Italien, denkt Herr Harald, er hätte sich eine neue Sprache teurer vorgestellt. (Aber recht bedacht, ist es eigentlich ja eine gebrauchte). Es freut ihn, dass er nun anstelle von jemand anderem Italienisch lernt. Er liest darin herum, wie auch mitunter in den liegengebliebenen Programmheften mit abgedruckten Libretti. Sein bescheidener aufgeschnappter Wortschatz aus Opernarien rund um Liebesdinge – bramare zum Beispiel, schmachten, oder stelle spietate, grausame Sterne, oder cara speme, liebe Hoffnung, oder lusingare, schmeicheln oder dolor, Schmerz, traditor, Verräter – wird nun eingebettet in ein Italienisch, mit dem er auch in einer Bar etwas bestellen oder sich über schlechte Matratzen und Straßenlärm beschweren könnte. Wenn er denn reiste. Aber darum geht es nicht, es geht um den Klang, um das Runde und Weiche, an dem man sich, anders als in der eigenen Sprache, keine blauen Flecken holt beim Sprechen. Die Zunge ist, hat sie italienische Fahrgäste, viel flinker unterwegs. Manchmal ergibt sich die Gelegenheit, einem italienischen Operngast den Mantel und die Einkaufstüten abzunehmen, dann sagt Herr Harald ecco, wenn er die Nummer überreicht, und prego, wenn sich der Gast bedankt. Er sagt es stumm.

Wächter über etwas zu sein, und seien es Mäntel, ist befriedigend. Herr Harald bewacht die Mäntel, ja, aber er wacht auch irgendwie über deren Eigentümer. Er verwahrt ihr Eigentum und gibt es ihnen so unversehrt zurück, wie er ihnen selbst wünscht zu bleiben. Die gut behüteten Mäntel behüten dann ihre Träger. Auch solcherlei Gedanken notiert sein Stift im Notizbuch, das er jedes Jahr erneuert und nach Monaten führt, nicht nach Tagen. Die sind einfach zu schleunig, statt nachzudenken gerät man in Galopp.

Das Warten, aus dem seine Arbeit größtenteils besteht, ist bisweilen ein abschüssiger Zustand. Wie Luftbläschen im Sprudelwasser steigt in der Stockung etwas empor. Erinnern ist dann unabweisbar, wie Aufstoßen, da kann man die Luft noch so sehr anhalten. Die Lungen gebläht von in der Vergangenheit Eingeatmetem, das nur in kleinsten Portionen entweichen darf, damit die Flügel nicht fächergleich zusammenklappen. Heute bahnt sich Folgendes seinen Weg nach oben: Das Nachbarkind, Träger eines Doppelnamens mit Bindestrich, rührt im Sandkasten einen garstigen Brei an und schmiert ihn dem Harald-Kind ins Haar. Vor Entsetzen reißt es die Arme hoch und den Mund auf, kein Laut dringt heraus. Und jemand macht ein Foto, schreibt, im Album, in ordentlich geschwungener Schrift darunter: Pech gehabt! Genug, zurück zum Italienischen: io vado, tu vai, lui, lei va. Unregelmäßige Verben steht darüber. Jeder geht anders. Und woanders hin. Wie unartige Kinder. Herr Harald bewundert still den Eigensinn.

Wenn es draußen regnet, ist es in der Garderobe dampfig. Die Mäntel und Taschen schwitzen. Herr Harald macht sich ans Raten. Dabei bemüht er sich, nicht zu schummeln, also nur die Eigentümer zu erraten, die ihm tatsächlich entgangen sind. Zum Beispiel den – oder vielleicht die? – des großkarierten, knöchellangen Mantels aus einem Wollgemisch, das leicht fusselt. In den voluminösen aufgesetzten Taschen Handschuhe und ein zerknülltes Papiertaschentuch. Womöglich der Mantel einer Tochter, die den Vater anstelle der Mutter in die Oper begleitet, einer Mutter, die Kopfschmerzen hat oder andere Ausreden parat. Die Tochter sitzt im pelzigen Dunkel der Opernhöhle, das Telefon ausgestellt, warm in der Handmulde wie ein frisch gebackenes Brötchen, und fühlt sich verlassen. Ihr Kleid, zuletzt bei der Konfirmation getragen, kneift. Nein, schlottert, sie hat hart abgenommen. Oder der Mantel gehört einer Gesangsstudentin mit günstigen Karten für unter Dreißigjährige. Sie und ihr Freund sitzen Hand in Hand, unter den Nägeln der Frau Wollfusseln aus den Manteltaschen. Würde sie ermordet, wäre das ein wichtiges Detail. Die winzige Fluse würde, das weiß man aus Krimis, mit der Pinzette in einem Tütchen verstaut, versiegelt und wie eine Kostbarkeit unter Glas weitergereicht. Es ergibt sich ein weiteres schönes Wort für sein Notizbuch: Garn-Fürsorge.

Die unter Dreißigjährigen können sich aufgrund der Ermäßigung Balkon leisten, nicht aber das teure Programmheft, dick wie ein Roman, und voller Expertenwissen, Gedichten und sicherlich klugen Anmerkungen. Herr Harald blättert sie immer wieder behandschuht durch, wenn er eines findet. Die Gespräche mit den Regisseuren überspringt er, betrachtet aber ausführlich die Fotos von den Proben, die Gesichter in Nahaufnahme, vom Singen gezeichnet und stark geschminkt. Über die Augen der Sängerinnen senken sich dichte, schwere Wimpernreihen, Theatervorhänge, die sich träge schließen. Die Künstlerinnen tragen meist bodenlange Kleider, die knistern beim Gehen wie ein glänzend verpacktes Geschenk, und fegen den Bühnenboden mit ihrem Schwung. Die Männer haben das Nachsehen.

Herr Harald mag die straffen Scheitel nicht, die neuerdings die jungen Herren wieder ziehen. Als wären die zwei Schädelhälften verfeindet. An der Seite der straff Gescheitelten beobachtet er häufig ebenso junge Frauen, die in den für diesen feierlichen Anlass gewählten Schuhen mit halsbrecherischen Absätzen nicht schreiten, sondern torkeln und sich mit vor Anstrengung pulsierenden Schläfenadern in der Armbeuge des Stützenden festkrallen. Er würde die Mädchen – fast noch Kinder – gern entlasten, ihnen anbieten, die niederträchtigen Schuhe an der Garderobe abzugeben, unter seiner Theke müssten diese dann wie fristlos Gekündigte schicksalsergeben ausharren. Und die Mädchen würden, sechs, sieben Zentimeter kürzer, auf lautlosen Sohlen ihre Stuhlreihe erreichen, die Füße unter dem Sitz gegeneinander reiben und massieren und dankbar an den etwas altmodischen Herrn in der Garderobe, Kittel und weiße Handschuhe, zurückdenken. Weil Winter ist – stellt sich dieser etwas altmodische Herr gerade vor – bröckelt der Nagellack ein wenig unter den Strümpfen, erst im Sommer wird er wieder blühen. Jeder Mensch, auf den sein Blick trifft, geht ihn etwas an, so ist das.

Im Dienst trägt Herr Harald einen schlichten dunklen Kittel, eigentlich schwarz, aber vom häufigen Waschen verschiefert im Farbton. Schiefer ist sein Lieblingsgestein. Es hält die Wärme lang-lang, das hat er einmal gelesen. Längst von der Sonne vergessen, gibt der Schiefer die gespeicherte Glut noch immer ab, an die Weinreben, an den Spaziergänger, der sich abends, bei eingebrochener Dunkelheit, davon trösten lässt. Und nicht nur die Wärme – nein, auch das über den Tag aufgenommene Licht spendet der Schiefer noch in der Nacht. Es ist milchig, aber hell genug, dass sich der einsame Spaziergänger begleitet fühlt. Und Schiefer, stellt sich Herr Harald vor, wäre, wenn essbar, eine milde Speise, nicht angeberisch feurig und gewürzt, sondern gaumenfreundlich ausgewogen, Zungenlabsal. Jetzt schweife ich aber ganz schön ab! Herr Harald ruft sich zur Ordnung und richtet sich auf seinem Schemel gerade auf. Das heißt, er schaut weg vom Wollmantel, schließt das Notizbuch und wischt zur Wiederaufnahme seiner dienstlichen Pflichten mit einem feuchten Kosmetiktuch über die Glasplatte der Theke. Zur Entschuldigung der Abschweifung bringt er noch vor: dort, wo er herkommt, fliest der Schiefer, damit keiner friere, den Boden wie feine Auslegware. Es schickt sich deshalb, hin und wieder dankbar daran zu denken. Wie an ein Geschenk. Ein Geschenk, das keine Verlegenheit auslöst. Herr Harald schaltet sein kleines Radio ein, so leise, dass die Nachrichten im Flüsterton vorgetragen werden. Die Katastrophen verpasst er, es ist bereits und abschließend vom Wetter die Rede. Die Niederschläge ziehen sich im Laufe der Nacht an den Alpenrand zurück, verspricht eine zuversichtliche Stimme. Freundlich, die Niederschläge.

Pausendeserteure sind im Vorhinein nicht leicht zu erraten. Man kann aber sagen, dass die unauffällig Angezogenen eher nicht dazu gehören. Die kommen aus Liebe. Liebe zur Musik. Die Pausendeserteure versuchen erfahrungsgemäß beim nervösen Einsammeln des Abgegebenen – nicht selten auch große Einkaufstüten von Geschäften rund ums Theater – ihm ein Trinkgeld zu geben, Ablass für ihr schlechtes Gewissen, dessen Zeuge er wird. Trinkgeld lehnt Herr Harald stets mit dem Hinweis ab, er trinke nicht. Eine Portion Stolz, bis zur Pause durchgehalten zu haben, ist manchen Gesichtern gleichwohl eingeschrieben. Herr Harald weiß Bescheid, aus langjähriger Beobachtung, er weiß sogar, wie es den früh Flüchtenden im Innern des gewaltigen Opernleibs ergeht: Bei der Ouvertüre, da sind alle dabei – so ein Schwung! – bevor es losgeht, verschicken sie noch rasch Fotos von sich inmitten roter Samtpolster. Und dann kommt das behäbige träge Öffnen des Vorhangs, dahinter ein zu lüftendes Geheimnis, das beschleunigt durchaus den Puls. Im ersten Akt erst Aufbau, dann Abbau einer pochenden, großen Erwartung, dieses Gefühls aus Kindertagen, das, während der ersten Takte, die Knie sogar im Sitzen weich macht. Nicht-Schwimmer-Ängste. Da kennt er sich aus! Unbehagen entsteht, die Zeit klemmt, man hat noch so viel Arbeitsschulden – deren Abtragung geht vor Kunstgenuss. Herr Harald nickt ein wenig, all das sieht er, ohne zu sehen. Die Entscheidung zur Flucht fällt. Die Garderobennummer in der Hosen- oder Handtasche schon einmal ertastet, sicherheitshalber. Herr Harald lehnt sich zurück. Er ist vorbereitet.

Aber es gibt auch die, die von Beginn an Totzeit empfinden. Das Theaterabonnement gehört zu ihrem Leben wie der Zahnarztbesuch. Die Pausendeserteure – die einen wie die anderen – reißen jedenfalls Herrn Harald ihre Mäntel förmlich aus der Hand und fädeln die Arme im Gehen ein, von den Anstehenden vor den Toilettentüren tadelnd gemustert.

Herr Harald erlebt, dass viele Kolleginnen die Zeit mit Kreuzworträtseln vertrödeln. Nichts für ihn, er hat anderen Zeitvertreib: Beim Umherschauen in seinem kleinen Regierungsbezirk zählt er und legt vorher fest: Worauf mein Blick bei der erreichten Zahl fällt, darüber denke ich nach. Mit der Zahl überrascht er sich jedes Mal selbst, die Grenze liegt bei fünfzehn. Bei elf öffnet er die Augen und schaut auf das H von „Herrentoilette“ und ist aufgefordert, so will es das Spiel, alle Begriffe aufzurufen, die er für diesen Ort kennt: das stille Örtchen, Abort, Abtritt, WeCe, Klo und Klosett, Lokus, Toilette und 00. Nullnull. Mehr fällt ihm nicht ein, und die Liste lässt ihn kalt. Auch andere Listen meidet er, er hält sie für gemogelt, Ausdruck der Überzeugung, dass es immerzu etwas zu erledigen gibt, Dagegen Muße! Herr Haralds Betrachtungen und Aufzählungen sind Bekundungen der Muße, um die es ihm geht, auch. Das schöne Abwarten, bis die Zeit sich im luftig wachsenden Innengewölbe ausdehnt und gleich einem Schirm aufspannt. Dann wird etwas spürbar – nein, sichtbar! –, das zuvor im Falz eines erschlafften Balgs verborgen war. Als solch einen schlaffen Balg stellt er sich die Seele vor. Das Schulkind hatte einmal, auf Aufforderung der Religionslehrerin hin, die Seele so zu malen, wie es sich diese vorstellt, kein engelgleiches Wesen und auch keine Taube gezeichnet, sondern eine Fledermaus. Eine Fledermaus, die kopfunter hängt, die großen Schwingen leblos gefaltet. Er zählt ein zweites Mal, bei fünf trifft sein Blick auf die schal-weiße Decke, dringt durch sie hindurch, erreicht weit darüber das staubgewebte besternte Tuch, das den Stolas ähnelt, die manche Besucherinnen um ihre Schultern tragen. Frohlocken. Leises Klirren im Radio. Eiswürfel beim Tanz. Bis in die untersten Lungenspitzen atmet Herr Harald perlende Luft ein, strafft sich ein weiteres Mal und schließt die Augen. Erfrischt. Mußedusche. Sein Wort des Monats Februar: Muße. Es ist, so lautet die Zusammenfassung dieser besonderen Pause, es ist gut, Luft für jemanden zu sein. Auch für sich selbst. Herr Harald nimmt erneut ein Reinigungstuch zur Hand und poliert die Nummernschildchen, die an den freien Haken auf ihren Einsatz warten, so lange, bis sie glänzen.

Ein Telefon klingelt, als Herr Harald gerade auf dem Schemel Platz genommen hat, die Hosenbeine etwas hochgezogen, damit der Stoff auf Kniehöhe nicht ausbeult. Der Klingelton: ein Schlager, Azzurro heißt blau, viel zu laut. Drinnen, das hört und weiß Herr Harald, geht es gerade um die letzten Dinge, um Sterben und Aufopferung und Verrat. Jetzt ist Handeln gefragt. Sein Verdacht fällt auf den Parka, den er, mangels Schlaufe, an der kunstpelzbesetzten Kapuze aufgehängt hat, die Seitentasche auf Rippenhöhe, jawohl, da ist es. Herr Harald zieht das lärmende Gerät vorsichtig heraus, an einem Feuerzeug und einer Zigarettenschachtel vorbei. Das Gesicht einer Frau ist auf dem Bildschirm zu erkennen, sie lächelt, darunter steht home. Herr Harald drückt auf das kleine rote Telefon, rot ist immer Verbot. Mehr kann er nicht tun. Weiß denn home nicht, dass der Mann in der Oper ist? Als er wieder sitzt, stülpt sich Traurigkeit über ihn. Durch das Schaufenster eines Friseursalons hat er einmal eine Dame gesehen, die unter der Trockenhaube saß, am ganzen Kopf Drähte. Sie las dabei in einer Zeitschrift, aber so gebeugt, als säße ihr ein Unglück im Nacken. Irgendwann wandte sie unter Verrenkungen den Blick zu ihm, der still vor der Eingangstür stand, ihr Blick wie von einem Tier, das ihn um Befreiung ansuchte. Herr Harald greift sich an die Schläfen, spürt das Jochbein, die knochige Schädelkontur. Das darf wohl als Gewissheit zählen.

 

Fortsetzung folgt...

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