Kultur trotz Corona: Schullektüre und Junges Lesen (6). Von Leander Steinkopf

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Plakat der Uraufführung von "Draußen vor der Tür" als Theaterstück in den Hamburger Kammerspielen.

Die Corona-Krise hat das Sozialleben gerade junger Menschen stark beeinträchtigt. Darüber hinaus wurde ihre Schulbildung ins Digitale verlagert, wo manches auf der Strecke blieb. Gerade in sozialer Isolation kann Literatur eine Stütze sein, die einem hilft mit den Problemen des Lebens klarzukommen. Somit ist es ein guter Zeitpunkt, um sich mit der Frage zu befassen, welche Literatur in der Jugend gebraucht wird – und was Schullektüre leisten könnte. Dazu soll diese Interviewreihe einen Beitrag leisten.

Im Interview: Noemi Schneider (*1982), Schriftstellerin, Filmemacherin und Journalistin, studierte an der Hochschule für Fernsehen und Film München Regie. Seit 2008 arbeitet sie als freie Autorin für Film, Funk und Print. Nebenbei schreibt sie Kurzgeschichten und Essays, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. 2017 wurde ihr Debütroman Das wissen wir schon im Verlag Hanser Berlin veröffentlicht; im selben Jahr war sie für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert. 

Interviewer: Leander Steinkopf (*1985) lebt nach Stationen in Mannheim, Berlin, Sarajevo und Plovdiv seit einigen Jahren in München. Von ihm erschienen verschiedene Bücher, u.a. der Roman Stadt der Feen und Wünsche bei Hanser Berlin. Er ist Herausgeber der Anthologie Neue Schule: Prosa für die nächste Generation bei Claassen.

Mit der folgenden zehnteiligen Interviewreihe beteiligt sich Leander Steinkopf an der Fortsetzung von Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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Wie kamst Du zum Schreiben?
Ich antworte mal mit einem Zitat aus dem Buch der Fragen von Edmond Jabès: „Als Kind, da ich zum ersten Mal meinen Namen schrieb, hatte ich das Bewußtsein, ein Buch zu beginnen.“ – Reb Stein

Wann und wodurch entstand Dein Interesse für Literatur?
Lag in der Familie, würde ich sagen. Mein Vater war Lektor und Verleger, meine Mutter ist Kinderbuchautorin.

Was kann Literatur, was Serien und Filme nicht können?
Innere Bilder erzeugen!

Hast Du als Schülerin gern gelesen?
Kaum konnte ich lesen, habe ich alles gelesen, was mir vor die Augen kam. Die Schulbibliotheken der diversen Schulen, die ich besucht habe, waren meine Lieblingsorte. Auch später an der Uni. Bis heute ist es so, dass Bibliotheken und Buchhandlungen für mich „Heimat“ sind, egal in welchem Land, ich fühle mich sofort zu Hause.

Hat Dir Schullektüre im Leben weitergeholfen?
Unbedingt. Draußen vor Tür von Wolfgang Borchert zum Beispiel. Das war so eine Schlüssellektüre. Auch Borcherts Kurzgeschichten wie Nachts schlafen die Ratten doch oder die Lesebuchgeschichten. Was „Krieg“ heißt, das hat Borchert erfahrbar gemacht, aus meiner Sicht. Sehr schade, dass er so selten gespielt wird. Auch Gedichte waren prägend. Frauen, fällt mir jetzt auf, haben wir eigentlich gar nicht gelesen, also Lyrikerinnen schon, aber keine Romanautorinnen oder Dramatikerinnen. Ich müsste nochmal nachdenken, aber nein, fällt mir jetzt keine ein. Sehr schade.

Gab es ein Buch, welches Du in der Schulzeit gelesen hast, das Dich in besonderer Weise geprägt hat?
Das waren tatsächlich sehr, sehr viele. Ich glaube, während meiner Schulzeit habe ich am meisten gelesen. Aber mir fällt eine lustige Geschichte ein. Ich war 13 oder 14 und fragte meinen Kunstlehrer Herrn Diehl, was sein Lieblingsbuch sei. Er sagte Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust. Kannte ich nicht. Den Titel fand ich toll. So poetisch. Also bin ich nach Hause und fragte meinen Vater, ob wir das Buch haben. Er zeigte mir das Regal, in dem die Bücher, es handelte sich um 10 Bände (die alte Suhrkamp Taschenbuch-Ausgabe), standen. Das war viel, also fing ich mit dem letzten Band an und fand ihn entsetzlich langweilig und hab sehr schnell aufgegeben. Aber 10 Jahre später dann habe ich alle 10 Bände gelesen und war begeistert! Bin ich noch heute. Kann ich auch immer wieder lesen. So wie Krieg und Frieden.

Wenn Du Deutschlehrerin wärst, welches Buch würdest Du Deine Schüler lesen lassen? Und warum?
Also ich würde einen Gedichtband wählen und zwar in deutscher Übersetzung, obwohl ich das auch irgendwie blöd finde, jetzt im Deutschunterricht Übersetzungen zu lesen, weil Übersetzung ja so ein ganz eigenes Thema ist, aber ich würde den ersten, und auf Deutsch einzigen, erschienenen Gedichtband Gedichte von Yahya Hassan wählen, ein dänisch-palästinensischer Dichter, der 2020 im Alter von 25 Jahren verstorben ist. Dieser erste Gedichtband von Yahya Hassan, der 2013 veröffentlicht wurde, war der meistverkaufte Gedichtband Dänemarks. Es steckt eine unglaubliche Wut und Sprachgewalt in diesen Gedichten und die Biographie des Dichters ist natürlich auch sehr tragisch, und ja, ich glaube, ich würde diese Gedichte lesen und mit den Schüler*innen über diesen Dichter und seine Biographie sprechen, ich glaube das hat sehr viel mit der Gegenwart zu tun.

Warst Du eine gute Schülerin?
Ich war sehr gut in Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Ethik, in den Sprachen so mittel und unterirdisch in Mathe, Physik, Chemie und Sport.

Welches Buch würdest Du heute Deinem jugendlichen Ich empfehlen?
Meinem jugendlichen Ich? Ach, keine Ahnung. Ich habe das Gefühl, mein jugendliches Ich hat wirklich so viel gelesen, dass mir da gar nichts einfällt. Und welche Gattung ist doch die Frage? Prosa, Drama, Unterhaltung, Lyrik? Einfach lesen. So viel lesen wie möglich, würde ich sagen. Obwohl, es gibt ein Buch, das ich erst im letzten Jahr entdeckt habe und das ich gerne schon früher gekannt hätte, ist allerdings schon wieder eine Übersetzung aus dem Italienischen: Curzio Malaparte, Kaputt. Wäre auch eine super Schullektüre.

Wurde in Deiner Familie viel gelesen?
Es wurde quasi nur gelesen.

Was war die frustrierendste Unterrichtslektüre Deiner Schulzeit?
Ich glaube das frustrierende in der Schulzeit sind nicht die Bücher, sondern die Lehrer*innen. Keine Ahnung. Die Schullektüren habe ich meistens sehr schnell durchgelesen, und die dann über Wochen durchzuexerzieren und zu interpretieren, das fand ich langweilig. Das Lesen nicht. Aber klar, ich erinnere mich zum Beispiel, dass ich Berlin Alexanderplatz irgendwie dröge fand. Damals. Keine Ahnung warum.

Was war die schönste Unterrichtslektüre Deiner Schulzeit?
Schön ist das falsche Wort, aber es war Draußen vor der Tür. Prägendste Schullektüre, vielleicht besser.

Hat Dir Literatur im Leben weitergeholfen?
Absolut. Tut sie immer noch. Ständig.

Noemi, danke Dir für das Interview!

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