Kultur trotz Corona: „Bolzen“. Von Vladimir Kholodkov

Vladimir Kholodkov (*1987 in Moskau) zog 2001 mit seiner Familie von Moskau nach München. Nach dem Abitur folgte ein Studium der Anglistik, Germanistik und Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2017 gewann er das Literaturstipendium der Stadt München.

Mit dem folgenden unveröffentlichten Text beteiligt sich Vladimir Kholodkov an der Fortsetzung von Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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Bolzen 

 

Eigentlich wollten wir keine Gesellschaft. Zu dritt kann man Quatsch machen, neue Tricks ausprobieren. Aber noch bevor wir den Bolzplatz sehen können, dringen zu uns die Stimmen durch und mein fünfzehnjähriger Bruder sagt: „Sind schon welche da.“ Wir lassen die Fahrräder auf dem Rasen liegen, kommen an die hüfthohe Wand, die den kleinen Bolzplatz umschließt. Hinter der Wand vermischen sich das Gescharre der Fußballschuhe über dem borstigen Kunstrasen, das gruselige, scharfe Schnaufen der sprintenden Spieler, das dumpfe Zusammenprallen von Schultern, der Knall, mit dem der Ball gegen die Bretter schlägt. Sobald sie uns sehen, werden meine Brüder mit Namen gegrüßt. Dann die Frage: „Jungs, wollt ihr mitspielen?“

Wir sagen klar, warum nicht. Daraufhin wird der neue Spielmodus beschlossen: drei Mannschaften mit je vier Spielern, wer zuerst drei Tore macht, gewinnt. Wir kriegen einen vierten Teamkollegen – einen kleinen drahtigen Typen, der Farid heißt, mit kräftigen Schultern, einem hellbraunen Gesicht und einem sanften, ordentlich gestutzten Oberlippenbart. Ich schätze ihn auf siebzehn, achtzehn.

Mein fünfzehnjähriger Bruder sagt: „Vierzehn.“ Auch beim Rest der Truppe sind Altersschätzungen ein unmögliches Unterfangen. Ein zwei Meter großer Riese mit einem Milchgesicht, bei dem der Stimmbruch noch nicht eingesetzt hat, steht neben einem kleinen Jungen, der in einem rauen Bass spricht und über einen mächtigen Bartwuchs verfügt. Ein Paar haariger, dicker Männerbeine kleben an einem schmalen Kinderrumpf. Stimmbruch in zehn verschiedenen Stadien, knospende Bartstoppeln, vulkanartige Pickel, asynchron gewachsene Hände, Füße, Hälse. Und zwischen diesen Pubertät-Frankensteins stehe ich, mit meinen verstaubten, prähistorischen zweiunddreißig.

Meine Brüder, Farid und ich dürfen gleich anfangen. Als unsere Gegner über die Absperrung auf das Feld klettern, höre ich meinen achtzehnjährigen Bruder murmeln: „Das wird lustig.“ Hier, in dieser Vorstadtlandschaft, wo gefühlt neunzig Prozent der unterachtzehnjährigen Einwohner in einem Fußballverein sind, und wo jeder irgendwann gegen jeden gespielt hatte, kennt man sich.

Ohne miteinander befreundet zu sein, wissen die Leute, wie alt man ist, wo die Eltern herkommen, wer zu einem Probetraining beim TSV 1860 München eingeladen wurde, wann bei wem der letzte Kreuzbandriss war. Und so erfahre ich von meinem Bruder, dass Robin in der gegnerischen Mannschaft beim FC Bayern spielt. Ich betrachte skeptisch seine Kinderstatur und denke mir: mal sehen.

Nicht, dass ich mich für einen begnadeten Fußballer halte – diese Illusion war bei mir rechtzeitig in die Brüche gegangen. Aber immerhin habe ich selbst lange im Verein gespielt, und danach immer wieder in der Freizeit, und überhaupt: Vielleicht bin ich für die Jungs hier ein Dinosaurier, aber selbst fühle mich mich in guter Form, und was die mangelnde Technik und Schnelligkeit angeht, werde ich sie bestimmt durch die Körpermasse und Kondition ausgleichen können. So denke ich beim Anstoß. Wenige Minuten später, nach dem zweiten kassierten Tor, begreife ich, wie falsch ich lag. Robin, mit seiner maschinenartigen Präzision, mit seiner Schnelligkeit – ich komme nicht mal in seine Nähe. Wenn er an mir vorbei gehen will, geht er an mir vorbei. Wenn er schießen will, schießt er und trifft. Meine Brüder und Farid versuchen mit mir, dagegen zu halten. Wie auch jeder auf dem Platz haben sie die von ihren Vereinstrainern eingedrillte Technik, das geschulte Koordinationsvermögen, die platzierten Schüsse, von denen ich in ihrem Alter nur träumen konnte. Aber Robin hat all das hoch zwei.

Robin ist dreizehn und spielt wie ein Profi, und ich bin zweiunddreißig und eine fette, glänzende Achillesferse in unserem Team, gefolgt von Farid, der zwar filigrane Technik hat, aber einfach nie, nie, nie abspielt. Wir kriegen das dritte Tor, mein achtzehnjähriger Bruder sagt bestürzt „Das war nix“ und wir müssen uns verziehen – Winner stays on.

Bei zwei glaube ich, dass ihre Eltern in Deutschland geboren wurden: Thomas, eine spindeldürre zweimetergroße Bohnenstange, und Michi, der mit seinem strohblonden Haar, harten, geschliffenen Modelgesicht und der Boxernase einen Wikinger spielen könnte. Der Rest, mich und meine Bruder inklusive, hat das, was man in den Zeitungen und bei Talk-Runden im Fernsehen „Migrationshintergrund“ nennt. Später nennt mir mein Bruder die Länder: Nigeria bei Isaac, Ghana bei Kante, Kroatien bei Andi und Alex, Bosnien Herzegovina bei Robin, Serbien bei Luca, Syrien bei Farid. Ich erfahre auch, dass ich mich bei Thomas, den ich für einen der beiden Deutschen hielt, getäuscht habe – er ist Österreicher.

Wir müssen wieder ran, wieder gegen Robin. Als ich durch die Lücke in den Gitterstäben eines der beiden Tore den Platz betrete, sehe ich einen Sticker auf der Innenseite des Pfostens: „Refugees not welcome“. Daneben hatte jemand mit einem schwarzen Filzstift das kreisförmige Logo der Identitären hingezeichnet, mit dem Spruch „Defend Europe“. Später lese ich auf dem anderen Tor, hingekritzelt mit dem gleichen schwarzen Filzstift: „Lügenpresse? Nein Danke“ und daneben „Dreckspack!“

Meine Hoffnung, ich könnte mit meiner überlegenen Körpermasse hier etwas ausrichten, war nichts als eine Verblendung. Nicht nur sind die Jungs schnell, diszipliniert und lauffreudig – sie sind auch verdammt stark. Bei den Zweikämpfen habe ich das Gefühl, gegen kleine metallene Statuen zu laufen. Ich halte mich zurück, die Jungs weniger. Manchmal prallen Schienbeine gegeneinander, jemand fliegt nach einem Schultercheck gegen die Bande. Michi hat eine grausame, schwarzrote Schürfwunde am linken Schienbein. Aber nach jeder verdächtigen Aktion wird sich sofort entschuldigt, dem Liegenden aufgeholfen.

„Luca! Sag Scheiße.“ „Scheise.“ Heiterkeit.

Mein achtzehnjähriger Bruder über Robin, nachdem er schon wieder ein unglaubliches Tor gemacht hat: „Er kann halt mit Drucksituationen umgehen.“

Ich muss an meine Kindheit in Moskau denken. Ende der Neunziger gab es dort nur eine Handvoll von Vereinen, in die man nur aufgenommen wurde, wenn man sehr gut war. Der Rest, mich inklusive, musste auf maroden, mit Hundekot bestreuten Bolzplatzen kicken. Nach unserer Ankunft in München hing ich viel auf einem Bolzplatz herum, wo ich irgendwann Pedro kennenlernte. Pedro, dessen Eltern aus Portugal stammten, und der genauso wie ich dreizehn war, erklärte mir ein Konzept, das ich erst nicht begreifen konnte: In Deutschland gab es an jeder Ecke einen Fußballverein und jeder, der Lust hatte, durfte mitmachen. Als ich mir sicher war, dass es keine Verarsche war, ließ ich mich von Pedro in seinen Verein mitnehmen, wo ich die nächsten sieben Jahre spielte und erst dann aufhörte, als ich in die Uni kam. Dagegen ist das Vereinssystem für meine Brüder, die in Deutschland geboren sind und seit ihrem sechsten Lebensjahr in einem Verein spielen, genauso außergewöhnlich wie die Tatsache, dass man Originaltrikots vom FC Bayern oder Real Madrid kaufen, oder mit den gleichen Schuhen wie Christiano Ronaldo spielen kann. Es gibt's halt. Hat es schon immer gegeben. Nicht der Rede wert.

Sie sind zu fünft, alle Mitte Anfang zwanzig. Einer hat trainierte Oberarme, eine polierte Glatze und eine Goldkette um den Hals. Der andere hat eine Fast-Food-Wampe und grau-braune Ringe um die Augen. Sie sprechen etwas Osteuropäisches, rauchen. Die alte Angst aus Moskauer Zeiten steigt in mir hoch. Machten solche Typen damals Auftritt, wusste man, dass man am besten schnell gehen sollte. Wenn man es nicht tat, riskierte man all die Dinge, die solche Typen als Hobby praktizierten: einen weggenommenen Fußball („Ich will ihn mir nur ansehen“) oder weggenommene Fußballschuhe, einen Schlag in die Fresse, einen Spruch, nach dem man sich den ganzen Tag lang beschissen fühlte (ein Schulfreund von mir wurde ein paar Mal „Judensau“ genannt).

Als ein Spiel zu Ende geht, gehen sie einfach aufs Feld und besetzen eines der Tore. Jetzt haben wir keine Wahl. „Jungs. Wollt ihr mitspielen?“ Sie sagen ja. Niemand will zuerst, nach einem langen Herumgedruckse lande ich mit meinen Brüdern und Farid auf dem Platz. Ich fange an zu überlegen, was ich tun kann, wenn es eskaliert. Weglaufen? Sich wehren? Dann geht es los und ich weiß nach ein paar Minuten, dass es alles Unsinn war. Die Neuen sind zwar motiviert, spielen aber genauso fair wie alle anderen, wollen niemanden beleidigen, niemanden fertig machen. An der Art, wie sie sich für Pässe anbieten, wie sie den Ball stoppen, wie sie verteidigen, merke ich: Auch die hatten Mal im Verein gespielt.

„Jungs“, ruft Robin über die Bande. „Welche Sprache sprecht ihr?“

Der mit der Kette sieht hoch. „Eine Mischung aus Serbisch und Ungarisch.“ Robin hebt verwundert die Augenbrauen.

Ich würde noch weiterspielen, aber meine Beine fühlen sich wie zwei steife, angeschwollene Klötze an, und etwas Spitzes scheint in meiner linken Bauchhälfte zu stecken. Sowieso sind die ersten schon am Gehen – Sportschau fängt bald an. Es wird abgeklatscht, prägnante Abschiedsworte werden gesprochen: „Mach's gut, Junge.

Dienstag Training.“ Meine Brüder und ich verabschieden uns, gehen zu unseren Fahrrädern. Ein paar bleiben zurück – vor allem die den serbisch-ungarischen Dialekt sprechenden Neuankömmlinge sind noch frisch, wollen weitermachen. Meine Brüder sagen: „Hat anders getaugt heute“, und ich sage: „Ja, voll.“ Nur das Fahrradfahren, auf dem Hinweg noch ein Vergnügen, wird jetzt für meinen geschundenen Körper zu einer Qual, die ich die fünfzehn Minuten bis nach Hause irgendwie überstehen muss. „Nächsten Samstag wieder?“, fragt mich mein Bruder. Ich sage: „Aber hallo.“