Sandra Hoffmann ist: DRAUSSEN (30). Und tankt in Palermo nochmal Licht vor dem Winter

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Kathedrale Santissimo Salvatore in Cefalù, Palermo. Alle Bilder (c) Sandra Hoffmann

Sandra Hoffmann schreibt Romane, Erzählungen und heimlich Gedichte. Sie unterrichtet kreatives und literarisches Schreiben u.a. am Literaturhaus München und an Universitäten. Außerdem schreibt sie für das Radio und für Zeitungen. Sie lebt in München und Niederbayern, wo sie derzeit viel Zeit in der Natur verbringt. Für ihr literarisches Werk wurde sie vielfach ausgezeichnet; zuletzt erhielt sie für den Roman Paula das Literaturstipendium des Freistaats Bayern und den Hans-Fallada-Preis. 2019 erschien mit Das Leben spielt hier ihr erstes Jugendbuch. Für ein derzeit entstehendes Romanprojekt bekam sie 2020 das Münchner Arbeitsstipendium.

Über einen längeren Zeitraum schreibt Sandra Hoffmann für das Literaturportal Bayern eine Kolumne: DRAUSSEN. Ein Album. Darin schildert sie, was sie auf dem Land und seiner Natur erlebt, ob sie nun Rehe und Fasane beobachtet oder zum Essen aufsammelt, was sie vor sich auf dem Boden findet. Vor allem aber geht es um das Gehen selbst und die Gedankengänge dabei, um ein Flanieren zwischen Bäumen, das Blaue vom Himmel über den Wipfeln.

Die Corona-Zeit ist eine Zeit der Einschränkungen, oft der Einsamkeit. Aber an ihr können sich auch die Sinne schärfen. Der besondere Geschmack schrundigen Gemüses, die bangende Pflege eines Quittenbaums. Das ist nichts Geringes. In einer Gegenwart, die uns die Folgen des langen menschlichen Raubbaus an der Natur immer drastischer vor Augen führt, sind darin wesentliche gesellschaftspolitische Fragen angelegt. Die Literatur verfolgt sie seit einiger Zeit mit einer auffallenden Renaissance des Nature Writing, bei Sandra Hoffmann in Form einer Schule der Wahrnehmung: Da DRAUSSEN gibt es etwas zu sehen, zu spüren, zu holen und zu schützen.

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30

Seit ein paar Tagen bin ich in Palermo. Und darum herum. Sizilien eben.
Noch einmal Licht tanken vor dem langen deutschen Winter, ein bisschen der Corona-Situation in Deutschland entfliehen, denn hier schwankt die Inzidenz gerade einmal zwischen 52 und 68, deshalb ist das Leben hier aktuell unvergleichbar angenehmer als zuhause.
Außerdem: Ein bisschen ins Warme noch fahren, hatte ich so gedacht.
Aber auch hier ist nicht immer Sommer.

Ich sitze im Zug.
Vor dem Fenster rauscht weite grüne Landschaft, die sich zum Meer hin erstreckt. Olivenbäume, Felder voller Orangenbäume, Felder voller Schwarzkohl, Artischocken, grün über grün, dazwischen immer wieder Mandarinenbäume, vielfarbig blühender Oleander, Bougainvillea, Malven. An den Palmen beginnen die Datteln zu reifen, honiggelbe Früchte jetzt, aber schon in voller Größe, Kaktusfeigen, manche schon gelbrot, rot und reif, manche noch klein. Dahinter das Meer, wie immer: azzuro. Darüber, blauer Himmel. Manchmal auch Wolken, kein Regen in Sicht. Heute nicht. Aber Wind, er kommt aus Osten, biegt die Palmen, biegt das Schilf, beugt die Landschaft, die Pflanzen: und als ich aus dem Zug aussteige, auch meinen Kopf auf die Brust.
Es ist frisch. Sehr frisch.

Und wie jeden Tag seit fünf Tagen trifft mich diese Erkenntnis wie eine wirklich große Überraschung. Und vielleicht ist das die intensivste Entdeckung, die ich gerade hier mache: Meine Erfahrung und meine Erkenntnis stimmen nicht überein.
Meine Kindersommer in Italien, meine Studentenreise an den Gardasee, in die Marken, in die Toskana, nach Venedig, zum Gargano, nach Sardinien, meine erwachsenen Reisen nach Italien fanden immer im Sommer statt. Nie vor Pfingsten und nie später als Anfang Oktober.
In meinem Kopf ist in Italien immer Sommer.
Das denkt auch mein Körper.

Und also habe ich meinen Bikini dabei, als ich fünfzig Kilometer nördlich von Palermo im Wind an den Strand komme.
Niemand ist im Wasser.
Es ist Mittagszeit, die Sonne legt sich auf die Häuser, wärmt die Wände, reflektiert. Die Bucht liegt windgeschützt. Das Meer wogt mit Winterwellen herein. Aber weil ich neulich noch bei zehn Grad in der Isar war, bei elf Grad zehn Minuten im See geschwommen bin, habe ich keine Angst vor der Temperatur des Meers. Mittelmeer, noch vom Sommer aufgewärmt, achtzehn Grad. Deutlich wärmer als die Luft. Ich schwimme. Fünfzehn Minuten. Und dann lege ich mich auf eine windgeschützte Bank an einer Mauer in die Sonne. Ich mache die Augen zu. Zehn Minuten lang ist jetzt Sommer. Dann ziehe ich mich an.
Als ich aus dem Windschatten gehe, trage ich den Schal eng und unter der Jacke einen Wollpullover. Fünfzehn Grad, gefühlt zwölf, sagt die Wetter-App, wegen des Windes. Auch wenn es um mich herum ausschaut, als habe es fünfundzwanzig.

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