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#SiXHOURSLATER. Bericht aus Québec (5)

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Links: Saint Charles. Rechts: Saint Laurent. Alle Fotos © Bleier

Im Rahmen der seit 1989 bestehenden Partnerschaft zwischen Bayern und Québec vergibt der Freistaat Bayern jedes Jahr ein Aufenthaltsstipendium für Schriftsteller*innen, Comic/Graphic Novel-Künstler*innen sowie literarische Übersetzer*innen. Die bayerische Stipendiatin bzw. den bayerischen Stipendiaten erwartet ein Aufenthalt von Mitte September bis Mitte November in der kanadischen Stadt Québec, bekannt für ihre dynamische Kreativ- und Literaturszene. Die diesjährige Stipendiatin ist die aus Regensburg stammende Autorin Ulrike Anna Bleier. Im Literaturportal Bayern berichtet sie regelmäßig über ihren Aufenthalt. Alle Folgen der Kolumne finden Sie HIER.

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Vom ersten Tag an habe ich mich wohl gefühlt in Québec. Zunächst habe ich dies auf meine hohe Bereitschaft geschoben, mich Hals über Kopf in Städte, Orte und Plätze zu verlieben. Dann auf meine Dankbarkeit, überhaupt hier sein zu dürfen. Das alles mag eine Rolle spielen. Während meiner ausgedehnten Spaziergänge durch die Stadt ist mir jedoch aufgefallen, wie viele Attribute sie von denen aufweist, mit denen Edward Relph places definiert hat:

  • Natur und Kultur gehen ineinander über: viele Bäume, viel Grün, viele Parks. Mehrere Flüsse fließen durch die Stadt und prägen den urbanen Raum.

  • Überall Bänke und Sitzgelegenheiten, man kann im öffentlichen Raum einfach sein, ohne dass man dafür etwas tun muss – weder Eintritt zahlen noch konsumieren noch irgendeine Funktion erfüllen.

  • Jeder Platz sieht anders aus.

  • Es gibt keine Fußgängerzonen, die aussehen wie alle Fußgängerzonen auf der Welt, und wo fast nur die großen Marken und Filialketten vertreten sind. Es gibt gar keine Fußgängerzonen außer temporäre: An den Wochenenden zum Beispiel sind viele Straßen für Autos gesperrt und die Leute sitzen auf ihren eigenen Sitzmöbeln oder von lokalen Initiativen gestalteten Sitzgruppen auf der Straße und trinken Bier.

  • Über die wunderbaren Treppen habe ich bereits im letzten Beitrag geschrieben, tatsächlich wird den Escaliers nun auch offiziell besondere Aufmerksamkeit geschenkt. 2022 wird das Jahr der Treppe in Québec! Hier eine tolle Beschreibung vom Wesen der Treppe:

Escalier jaune. Seltsamerweise bringt diese endlose Treppe die Leute dazu, sich zu grüßen, sich anzulächeln und sogar mit einander zu sprechen. Höchstwahrscheinlich besitzt sie sogar therapeutische Fähigkeiten (Jacques Côté; Les amities inachevées)

  • Plätze und Parks sind oft einem Thema gewidmet, d.h. sie haben eine Geschichte, die dort dokumentiert ist (da sich hier vor allem Einheimische aufhalten, richten sich diese Dokumentationen an die Einheimischen). In Saint-Saveur – einem eher unscheinbaren Wohnviertel – ist beispielweise die Chansonette Alys Robis aufgewachsen, an einem ihr gewidmeten Platz sind in das Pflaster die Titel ihrer Alben eingraviert.

  • Offenbar werfen hier so gut wie alle Menschen ihren Müll in einen Mülleimer. Was möglicherweise daran liegt, dass an jeder Ecke auch solche stehen, große und wirklich schön gestaltete Mülleimer, die niemanden stören. Genauso ist es mit öffentlichen Klos. Sie sind kostenlos und sauber. Vielleicht hat Québec mehr Geld als deutsche Städte zur Verfügung, vielleicht kalkulieren sie aber auch anders.

Mülleimer

Mega-Shopping Malls und Liebeskummer

Allerdings trifft dieses faszinierende Raum-Management nicht auf alle Stadtviertel zu. Statt Fußgängerzonen gibt es hier zum Beispiel die Galeries de la Capitale, eine Mega-Shopping Mall in der Größe einer kleinen Stadt, mit sämtlichen bekannten und unbekannten Ketten dieser Welt. Und auch am Place de Saint-Foy bin ich endlos durch Einkaufszentren gestapft; dort halten die Leute einander nicht einmal die Tür auf. Es sind dieselben Menschen, aber der Ort gibt dem Zusammentreffen eine andere Bedeutung. Durch die Einkaufszentren geht man zielgerichtet, der Ort stellt klar, was er möchte. Kauf was, halt dich nicht auf mit Kleinigkeiten!

Auf der Escalier de Faubourg kommt man dagegen mit wildfremden Menschen ins Gespräch wie beispielsweise mit dem spanisch-französischsprechenden Kanadier, der mich fragt, woher ich komme und ob ich nach Limoliou gehe, ja, genau, ach ja, Limoliou, dort habe er lange mit seiner Frau gewohnt, und während wir die Treppe hinuntergehen, erzählt er, dass sie ihn dann leider rausgeworfen habe. C'est dommage, sagte ich, und er sagte, nous sommes encore des amis. Wir sind noch Freunde. Oder im Cartier-Viertel, wo eine melancholische Verkäuferin aus Frankreich mir erzählt, sie sei vor vier Jahren aus Liebeskummer von Lille nach Québec gezogen – pour oublier, um zu vergessen.

Orte sind Orte, an denen man sich auch die traurigen Geschichten erzählen kann.

Mein Vorschlag wäre, auch aus Einkaufszentren Orte zu machen, an denen wir uns unsere traurigsten Geschichten erzählen können. Und wenn es nur die Geschichten über die Einkaufszentren sind.

Katze im Schaufenster