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#SiXHOURSLATER. Bericht aus Québec (3)

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Alle Fotos © Bleier

Im Rahmen der seit 1989 bestehenden Partnerschaft zwischen Bayern und Québec vergibt der Freistaat Bayern jedes Jahr ein Aufenthaltsstipendium für Schriftsteller*innen, Comic/Graphic Novel-Künstler*innen sowie literarische Übersetzer*innen. Die bayerische Stipendiatin bzw. den bayerischen Stipendiaten erwartet ein Aufenthalt von Mitte September bis Mitte November in der kanadischen Stadt Québec, bekannt für ihre dynamische Kreativ- und Literaturszene. Die diesjährige Stipendiatin ist die aus Regensburg stammende Autorin Ulrike Anna Bleier. Im Literaturportal Bayern berichtet sie regelmäßig über ihren Aufenthalt. Alle Folgen der Kolumne finden Sie HIER.

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Im letzten Beitrag habe ich über Zwischenorte (ephémères lieux) geschrieben, und dazu gehören auch Brücken und Treppen. Vor allem Treppen sind ein wichtiger Bestandteil im Stadtbild von Québec, denn die Oberstadt (Haute ville) und die Unterstadt (Basse ville) weisen eklatante Höhenunterschiede auf und es gibt exzentrische Treppen, die sie miteinander verbinden. Zum Beispiel die älteste Treppe der Stadt L'Escalier Casse-Cou, übersetzt: die Halsbrechertreppe, oder L'Escalier du Faubourg, die viel steiler ist als die Halsbrecherbrücke und die Stadtviertel Saint-Jean-Baptiste und Saint-Roch miteinander verbindet. Wer keine Lust zu laufen hat, kann an der Rue Saint-Vallier den kostenlosen Fahrstuhl benutzen, dessen Eingang in einem Kiosk versteckt ist – eine Beiläufigkeit, die ich irgendwie sensationell finde.

Obwohl der Sankt-Lorenz-Strom prägend für Québec und die Geschichte und Wirtschaft der Stadt ist, gibt es nur zwei Brücken über den Fluss, die auch noch so unzentral wie möglich liegen. Die älteste ist die Pont de Québec, eine ehemalige Eisenbahnbrücke jotwede, genau da, wo der Fluss enger wird. Eine zweite verbindet das Arrondissement Beauport mit der Insel Ile D'Orleans. Darüber hinaus führen einige Autobahnbrücken und kleinere Auto- oder Fußgängerbrücken über den Saint Charles Rivière, einen kleinen gemütlichen Fluss, der dem gleichnamigen See im Landesinneren entsprungen ist und sich durch die nördlichen Stadtteile schlängelt.

Wahlen in Kanada

Eigentlich wollte ich gar nicht soviel über Treppen und Brücken schreiben, sondern über Identität. Das beschäftigt mich, seit ich hier bin, nochmal auf besondere Weise, stößt man doch überall in der Stadt auf die nationale Identität der Québécois. Oftmals wird die Situation Québecs – damit ist die gesamte Provinz gemeint – innerhalb Kanadas mit dem berüchtigten kleinen gallischen Dorf verglichen. Bei den Wahlen, die letzten Montag stattgefunden haben, ist erneut der Bloc Québécois drittstärkste Kraft Kanadas geworden und repräsentiert damit etwa die Hälfte aller Stimmen, die der Provinz Québec innerhalb des kanadischen Parlaments zustehen. Der liberal-sozialdemokratisch ausgerichtete Bloc Québécois hat sich in den 1980er-Jahren unter anderem aus Mitgliedern der linksgerichteten Parti Québécois rekrutiert, welche wiederum als ehemalige Regierungspartei durchgesetzt hat, dass Québec als autonome Nation innerhalb Kanadas angesehen und Französisch alleinige Amtssprache wird. Wie so oft war die Behauptung der eigenen Identität auch in Québec eine Geschichte der Emanzipation und Rückeroberung identitätsstiftender kultureller Errungenschaften. Die Parti Québécois war übrigens auch die erste, die das Recht der Ureinwohner Kanadas – der First Nations – auf Selbstbestimmung anerkannt hat.

Pont de l’île d’Orléans

Wie immer, wenn ich über Identität nachdenke, fällt mir auf, dass ich eigentlich gar nicht genau weiß, was das ist: Identität. Ich wusste es noch nie. Wenn ich versuche, mir in Erinnerung zu rufen, was ich je darüber gehört und gelesen habe, stelle ich fest: Es ist so gut wie nichts hängen geblieben. Es ist wie früher in der Schule, wenn ich in Erdkunde über die verschiedenen Erdschichten abgefragt wurde und ich habe das Prinzip Erdschicht irgendwie gar nicht verstanden.

Offenbar ist aber Identität etwas, von dem alle wissen, was es ist, die, die eine haben, genauso wie die, die keine haben (aber eine möchten). Ist das bereits ein Kennzeichen von Identität: zu wissen, was es ist? Oder ist es ein Kennzeichen von Identität, es nicht wissen zu müssen?

Wozu soll ich mich zugehörig fühlen?

Die meiste Zeit meines Lebens habe ich damit gehadert, mich nirgendwo zugehörig zu fühlen. Nun hätte ich mich ja der Gruppe derer, die damit hadern, sich nirgendwo zugehörig zu fühlen, zugehörig fühlen können. Aber zum einen gibt es diese Gruppe nicht als Einheit, zum anderen hat diese Gruppe, die es nicht als Einheit gibt, mich selbst nie als zugehörig empfunden: Was, ausgerechnet du fühlst dich nicht zugehörig? Ja zu was nur soll ich mich zugehörig fühlen? Zu Bayern? Zu Deutschland? Zu Europa? Zum Patriarchat?

Escalier en Petit Camplain

Wenn Identität die Voraussetzung ist, um für die Interessen der eigenen Gruppe und gegen Benachteiligung kämpfen zu können, ist es notwendig, sich dieser Gruppe zugehörig zu fühlen. Und dann ist es selbstverständlich auch notwendig, sich gegen diejenigen abzugrenzen, die, seit man denken kann, für strukturelle Unterdrückung sorgen. Schwierig wird es leider immer dann, wenn gar keine Benachteiligung vorliegt und bereits privilegierte Gruppen nur einfach nicht aufhören können, ihre eigenen Interessen durchzusetzen (gegen die Interessen anderer Gruppen). Nur: Wer definiert, wann was aufhört – die einen oder die anderen? Ich persönlich gehöre partiell zu benachteiligten wie privilegierten Gruppen, also bin ich – objektiv gesehen – raus. Was nicht gerade zur Steigerung meines Zugehörigkeitsgefühls beiträgt.

Ein Gespenst sitzt auf der Treppe

Der Teil in mir, der sowieso nicht an das Konzept Identität glaubt, ist ein Gespenst und versucht Menschen, die für ihre Interessen kämpfen, möglichst wenig im Weg zu stehen. Das Gespenst sitzt am liebsten in Zwischenräumen und schaut den Leuten beim Leben zu und ansonsten schaut es Treppen und Brücken an. Wo immer graduelle Unterschiede sind, sind Treppen die Möglichkeit, diese auszugleichen. Man sollte nur immer irgendwie den Überblick bewahren, wo man gerade ist. Eine Treppe ist eine Treppe ist eine Treppe.

Links: Escalier en Saint Roche. Rechts: Escalier Casse-Cou.

Während das Gespenst in mir auf die Treppen schaut, lese ich wieder in Karen Barads Buch Verschränkungen (Merve-Verlag), über das ich bereits im Meran-Blog sinniert habe. Man kann die Welt so sehen, dass sie aus Quantenverschränkungen besteht; dass auch wir uns in einer fortwährenden Superposition befinden: Dass wir etwas sind, das wir gleichzeitig nicht sind, ist kein Widerspruch, sondern eine Eigenschaft. Es gibt so gesehen gar keine Widersprüche – das hört sich jetzt ein bisschen harmoniesüchtig an – damit ist aber gemeint, dass die Einteilung der Welt in Schwarz und Weiß, in Mann und Frau, in Ihr und Wir, in Gut und Böse ein ganz großer Irrtum ist, und einfach nur der Tatsache geschuldet ist, dass wir (noch) nicht so weit sind, über das Konzept von Dualität hinaus zu denken. Im Grunde haben wir alle keine Identität, denn Identität ist etwas Statisches und steht der Zeit, die vergehen möchte, im Weg. Rein quantenphysikalisch gesehen, so Karen Barad, ist alles, was ist, queer. Alles andere ist eine Treppe.

Peuple du Québec

P.S. Ich habe keine Ahnung, was Treppen und Sitzgelegenheiten mit Identität zu tun haben, aber auf dem Wandbild in der Rue Stanislaus, das den Québecern und den Gründern des Institut Canadien de Québec gewidmet ist, ist dieser Zusammenhang eindeutig abgebildet. Und das habe ich spukhafterweise erst festgestellt, nachdem dieser Text geschrieben war.