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18.06.2010, 11:25 Uhr
Peter Czoik
Text & Debatte

Mirjam Presslers literarische Kinder

Wer schon einmal ein Kinder- und Jugendbuch Mirjam Presslers gelesen hat, weiß, dass die meisten ihrer Geschichten von den Gefährdungen und Schwächen ihrer jungen ProtagonistInnen handeln. Dabei entwickelt sie eindringliche Innenwelten, fragt nach den Hintergründen von Diskriminierung und versucht sich in differenzierten Milieustudien.

Es wäre jedoch falsch, daraus eine bloße Vorliebe für schwache und problembehaftete Kinder oder Außenseiter der Gesellschaft, die mit dem Leben nicht zurechtkommen, abzuleiten. Was Mirjam Presslers Figuren vereint, ist der unablässige Versuch, dem Leben etwas abzugewinnen – trotz aller Nöte und Einschränkungen: „Werde so schnell wie möglich erwachsen, eine andere Chance hast du nicht“,[1] mahnt die Autorin, die nach ihrer bürgerlichen Existenz (einer Ehe und einem Jeansladen) mit dem Schreiben anfing.

Indem Mirjam Pressler das Bild einer materiell und psychisch entbehrungsreichen Kindheit aufrechterhält, vermag sie nicht nur die Schwierigkeiten im Leben von Kindern zu objektivieren, sondern ihnen gleichzeitig eine eigene Stimme zu geben. Vier ihrer Heldinnen „stehen neben“ ihr, „stellvertretend für alle anderen“, hat Pressler einmal anlässlich der Verleihung der Carl-Zuckmayer-Medaille 2001 gesagt und damit die überlebenswichtige Funktion von Sprache im Leben ihrer Figuren angesprochen.[2]

Da ist zum einen die zehnjährige Ilse aus Novemberkatzen (1982), eine geduckte, gehänselte Figur („Ilse, Bilse, keiner will se“), die fast sprachlos ist und nur durch ein reiches inneres Leben über die Wirklichkeit als imaginären Raum verfügt. Sprache, Worte liegen in ihr praktisch verborgen. Auf der anderen Seite steht das Mädchen Halinka aus Wenn das Glück kommt, muß man ihm einen Stuhl hinstellen (1994). Für sie ist Sprache ungeheuer wichtig. Sie, die ihre Mutter hasst und sich – im Unterschied zu Ilse – nicht für die Frage, wer ihr Vater ist, interessiert, entdeckt den geheimen Symbolwert von Sprache, der besonders den Sprüchen ihrer einzig geliebten Tante Lou innewohnt. Ein solcher Spruch ist z.B. „Was braucht man Honig, wenn auch Zucker süß schmeckt?“, was dazu führt, dass Halinka auf diese Weise selbst schlechten Erfahrungen noch etwas Positives abgewinnen kann.

Jessica und Dalila aus Shylocks Tochter (1999) hingegen haben das Verbrennen der heiligen Bücher miterlebt und empfinden das als direkten Angriff auf ihre Person – denn „wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen“ (Heine). Sie ziehen deshalb die Konsequenz und verlassen Venedig (Jessica) bzw. die Sprache ihrer Väter, um auf der Seite der Christen eine neue Heimat zu suchen (Dalila).

Presslers vierte Heldin, die siebenjährige Malka in Malka Mai (2001), verstummt gänzlich, da ihr der Terror während der Nazi-Zeit die letzte Möglichkeit nimmt, sich sprachlich zu äußern. So wie kleine Kinder die Augen verschließen und glauben, sie wären dadurch unsichtbar, verweigert Malka dem Grauen den Namen. Ihre Sprachverweigerung führt dazu, dass Hunger und Kälte kaum Einfluss auf sie haben, weshalb sie noch im Stummsein unangreifbar für den Leser wirkt.

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[1] Roßmann, Robert; Kratzer, Hans (Hg.) (2004): Stadt, Land, Wort. Bayerns Literaten: 22 Porträts. Waldkirchen, S. 19.

[2] Der Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz (Hg.) (2002): Carl-Zuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz 2001. Mirjam Pressler: Eine Würdigung. Edenkoben, S. 26. „Meine Aufgabe ist es nicht nur, sie [die Figuren] durch Sprechen zum Leben zu erwecken, ich muss ihnen auch eine eigene Sprache geben, damit sie ihre Sehnsüchte formulieren und ihre Ansprüche anmelden können. Umso mehr, wenn sie die Sprache gerade erst entdeckt haben, so wie es auch bei einigen meiner Leser und Leserinnen der Fall sein mag.“ (Ebda., S. 24)