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05.03.2010, 16:13 Uhr
Peter Czoik
Text & Debatte

Auf der Suche nach der verlorenen Geschichte – Anna Wirbel und Hans Jürgen Stiegelmaier

Keine der AutorInnen aus der Sammlung Aus der Jugendzeit schreibt ihre/seine Autobiographie selbst, die Carlamaria Heim aus Einzelgesprächen aufgezeichnet hat. Im Falle der KZ-Überlebenden Anna Wirbel wird der (verhinderte) Schreibprozess schließlich zum Desiderat: „Nein, erzählen kann man das gar niemand, wie das war, und was man gedacht hat. Wissen Sie, ich hab immer vor Augen, wie sie uns Kinder die Schuhe nahmen und alles, ach furchtbar. Das kann gar niemand fassen. Da müßte man selber schreiben können. [...] Wenn ich schreiben hätt können, ich hätt das von Anfang an richtig aufgeschrieben, die Kindheit, die Jugend und alles.“[1] Zugleich stößt man mit diesem Schreiben an eine Erfahrungsgrenze: „Wenn einer das nicht selber mitgemacht hat –! Man muß sich in den Menschen reindenken können, und man muß vielleicht auch einmal die Sitten und Gebräuche kennenlernen, und das kann man doch nicht in ein paar Stunden, auch nicht in ein paar Wochen, da braucht man lange dazu.“[2] Nicht zuletzt darin besteht Carlamaria Heims literarische Leistung, dass sie sich in die Köpfe der Menschen förmlich ‚reingedacht‘ hat.

Von den insgesamt neun Autobiographien nimmt dagegen letzte eine umgekehrte Stellung zum Erzählen und Schreiben ein: Es ist die Geschichte des arbeitslosen Hilfsarbeiters Hans Jürgen Stiegelmaier (Name geändert, Jahrgang 1957), der im Vergleich zu Heims übrigen GesprächspartnerInnen Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg nicht erlebt hat,[3] dafür aber aus den Erfahrungen seiner restriktiven Kindheit und Jugend schöpft. Ähnlich wie bei anderen Arbeiterautobiographien sind in seiner Geschichte u.a. der standardisierte Rückgriff auf die Geburt („Ich bin am 23. März geboren“), die Erinnerung an wichtige soziale Kontaktpersonen der ersten Lebensphase (Oma, Onkel, Tante, Vater, Mutter) – wobei dem Großelternteil die fürsorglichere Rolle als den Eltern zukommt –, sowie einschneidende private Erlebnisse, die singulär oder wiederkehrend sich ereignen, vorhanden (Tod der Großmutter; Prügel von der Mutter).[4]

Entscheidend für Stiegelmaiers Erzählhaltung bleibt jedoch die spürbare Distanz zum Schreiben – und zum Erzählen: „Deutsch war für mich auch immer scheißschwer, weil sich keiner mit mir abgegeben hat, und gelesen hab ich auch nichts. Ich les heut noch nicht, auch keine Comics, auch keine Romane. [...] Märchen könnt’ ich Ihnen kein einziges erzählen; ich weiß keines auswendig. Ich weiß nur den Anfang. Und Gedichte mag ich von Haus aus nicht. [...] Ja, und deswegen tu ich mir halt auch schwer mit dem Schreiben.“[5] Damit reiht sich seine mündlich erzählte Autobiographie in die typischen Verhaltensweisen anderer deutscher Autobiographien des 20. Jahrhunderts ein, unter denen keine einzige ist, „in der jugendlicher Lese-Eifer an irgendeiner Stelle vorkommt“.[6]

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[1] Carlamaria Heim: Aus der Jugendzeit. Kindheit und Jugend in Deutschland. München 1984, S. 152.

[2] Ebda., S. 150.

[3] Zu den Autobiographien dieser Zeit allgemein: Lehmann, Albrecht (1983): Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiographische Untersuchungen. Frankfurt/M., S. 91-172. Zur bayerischen Autobiographik der Weimarer Zeit vgl. insbesondere den Artikel von Becker, Nikola: Autobiographien (Weimarer Republik). In: Historisches Lexikon Bayerns. URL: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44658, (08.09.2008).

[4] Vgl. Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf, a.a.O., S. 210-223.

[5] Heim: Aus der Jugendzeit, a.a.O., S. 181.

[6] Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf, a.a.O., S. 219.

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