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Laudatio auf Ursula Krechel zur Verleihung des Jean Paul-Preises

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Foto: Andreas Gebert

Der Jean Paul-Preis des Freistaats Bayern ging 2019 an die Schriftstellerin Ursula KrechelKunstminister Bernd Sibler begründete die Auszeichnung Krechels unter anderem mit der Aufarbeitung von Traumata, Schuld und Verdrängung durch akribisch recherchierte und literarisch gestaltete Erinnerung. Der mit 15.000 Euro dotierte Literaturpreis des Freistaats wird alle zwei Jahre vergeben und würdigt das literarische Gesamtwerk eines deutschsprachigen Schriftstellers oder einer deutschsprachigen Schriftstellerin. Die Preisverleihung fand am 16. Dezember 2019 in München statt. Die Laudatio auf die Preisträgerin hielt Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Michael Stolleis.

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Zunächst ist die bayerische Staatsregierung dafür zu loben (in der Person des Staatsministers Bernd Sibler), dass sie einen Jean Paul-Preis verleiht. Das ist deshalb so lobenswert, weil der vom Schreiben besessene „Wortmagier aus Wunsiedel“ beileibe nicht nur ein kauziger fränkisch-bayerischer Autor ist, sondern einer der größten und gleichzeitig am wenigsten gelesenen Autoren der deutschen Literatur. Dass er heute nur wenigen bekannt ist, dürfte auch der Grund dafür sein, dass er erst 1973 (dank Kultusminister Hans Maier!) in die Walhalla aufgenommen wurde.

Wer Jean Paul nicht liest, bringt sich (ohne es zu wissen) um ein großes Vergnügen. Wer es aber tut, ein wenig Geduld und Neugier vorausgesetzt, wird bezaubert sein von Witz und Menschlichkeit, ironisierter Gelehrsamkeit, abgründigen Ahnungen, klaren Diagnosen, Abgesängen auf die Welt des Alten Reichs um 1800. Jean Paul ist ein Mischwesen aus Irdischem und Himmlischem, ein Autor des Freundschaftskults, der Umarmungen und Tränen, der Satire, der Traumlandschaften, des aufsteigenden Subjektivismus und des Grauens vor dem Verlassen der nun zerfallenden oder jedenfalls bedrohten Gehäuse von Gottesglaube, Familie und ständischer Gesellschaft. Er kennt, wie Hans Maier in der Walhalla-Rede sagte, die „Einsamkeit und Verlassenheit des Menschen in der modernen Welt... die hektische Mobilität, das Nebeneinander technischer Perfektion und tödlicher Naturentfremdung, Luftschifferblicke von weit oben auf die verachtete Erde, Mond- und Raumfahrten, die Wucherung der Städte…ja die präzise geschilderte Weltvernichtung“.

Ich zitiere dies nicht, um Jean Paul zu preisen. (Ich wäre dazu allerdings stets bereit, bin Mitglied der Jean-Paul-Gesellschaft, lebenslanger Jean Paul-Leser und Wanderer in Wunsiedel, Joditz, Schwarzenbach an der Saale, HofBayreuth inkl. Rollwenzelei und Eremitage.) Ich sage es vielmehr, um Sie indirekt vorzubereiten auf Ursula Krechel. [...]

Ich könnte es ganz einfach machen: Sie ist geborene Triererin. Die Stadt spielt in ihren Texten eine wichtige Rolle, zuletzt im Roman Geisterbahn (2018). Ich könnte berichten über das Studium in Köln, die Promotion, die Arbeit als Dramaturgin in Dortmund, über kritisch-journalistische Arbeiten, über kontinuierlich erscheinende Lyrikbände, über ein frühes Theaterstück, viele Hörspiele, Vorlesungen übers Schreiben. Dann müsste die Trilogie der Romane folgen (Shanghai fern von wo, 2008 [auch als Hörspiel]; Landgericht, 2012, Geisterbahn, 2018), die den Ruhm der Autorin weiter hinausgetragen haben und die für die Jury vielleicht auch entscheidend waren. Dann müsste ich die vielen früheren Literaturpreise aufzählen, den Deutschen Kritikerpreis, den Joseph Breitbach-Preis, den Deutschen Buchpreis, die Mitgliedschaften in der Mainzer Akademie, der Berliner Akademie der Künste, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Das wäre, in einer Kurzfassung auch das, was Wikipedia bietet!

Aber Sie, verehrte Zuhörer, und sicher auch Ursula Krechel, die das alles schon weiß, wollen doch etwas mehr hören. Mit Recht!

Ich habe mich, beide Arme voller Krechel-Bücher, zurückgezogen, Abend für Abend gelesen und in den Kosmos ihrer Texte vorgetastet. Die genannten großen Romane kannte ich natürlich und bewunderte sie. Aber sehr vieles kannte ich bisher auch nicht, die Essays, die Lyrik, die frühen Romane (Zweite Natur; Sizilianer des Gefühls), mehrere Essaybände (Mit dem Körper des Vaters spielen; Die Freunde des Wetterleuchtens) oder die Erzählung Übergriff (2001). Ein Handbuch für alle, die schreiben wollen zog mich besonders an. Das hätte ich gerne im Alter von 17 Jahren gehabt – oder vielleicht auch nicht, weil mich die hohen Ansprüche entmutigt hätten. Erst nach diesem Lese-Marathon wurde mir klar, wie groß, anspruchsvoll und bedeutend Ursula Krechels Oeuvre ist. 

Zunächst also ein Wort zu den Gedichten. Sie entstehen, sozusagen unausrottbar, vor und zwischen den anderen Büchern. Sie sind in Krechels Oeuvre zentral. Denn sie ist genuin Lyrikerin, auch wenn sie Prosa schreibt, und zwar weil die Gattungen bei ihr ineinander übergehen. Sie hat eine phänomenale Begabung für die scharfe Beobachtung: Hautfalten, faulende Aprikosen, Hundekacke, zartestes Licht überm See, aber auch „Wörter wie Bodenverbände, Abschussrampen, Spürpanzer“ (1992), Getöse von Müllautos, Bäume in allen Jahreszeiten. Ursula Krechel evoziert keine Idylle, sie sieht dem Bösen ins Gesicht und sie weiß als Melancholikerin, dass das Gute sich gegen das Böse oft nur mit Gewalt wehren kann. Wie Jean Paul ist auch sie eine „Wortmagierin“. Ihre lyrische Welt ist natürlich nicht die Zeit um 1800, sondern unsere Gegenwart. Unter dem Pflaster liegt für sie nicht der Strand als Metapher der Freiheit, sondern sie evoziert dort die Datenkabel, die Schlagadern für Öl und Gas, die Abwässer unserer Kultur. In der Tiefe liegen vor allem die sprachmächtigen Toten, mit denen sie redet. Lesen Sie, um nur einen Eindruck zu gewinnen, das großartige Langgedicht Stimmen aus dem harten Kern (es füllt einen ganzen Band) mit je 12 mal 12 Versen in je 12 Kapiteln, quer durch die Geschichte der Schlachtfelder, der Menschenwanderungen und der permanenten Kämpfe. Sie werden, wenn Sie sich von dem visionären Sprachstrom erfassen und treiben lassen, verwandelt daraus hervorgehen. Sie werden das Konzentrat unserer paradoxen Existenz in den Worten finden:

Wenn wir uns auf die Seite des Ich schlagen, bricht der Boden
Wenn wir uns nicht auf die Seite des Ich stellen, zerbrechen wir

Es ist die Kraft der poetischen Verdichtung, die eine imaginäre, aber bleibende Welt schafft. Was auch immer die Strategen des Tiefbaus und Hochbaus sagen mögen, die Verkünder der digitalen Vernetzung, der täglichen Wichtigkeiten und Nützlichkeiten, der Weltrettung durch Sofortmaßnahmen, bleiben werden das Gedicht, der Gesang, der gestaltete Text mit dem menschlichen Kern, das Kunstwerk. Auch Kunstwerke mögen zerfallen, wie alles Menschenwerk, aber einige bleiben, werden immer neu entdeckt, entzücken neue Generationen oder schlagen ihnen eine Erkenntnis vor den Kopf, die sie brauchen. Ich bin überzeugt, dass die Herstellung von Dichtung eine der wichtigsten Tätigkeiten des Menschen ist, es ist das Mahlen von Korn und das Backen von Brot, und zwar eines Brotes von unbegrenzter Haltbarkeit.

Foto: Andreas Gebert

Dass der Staat dies gelegentlich mit Preisen belohnt, weil er ja selbst nicht dichten kann, ist nur gut und recht. Auch Walther von der Vogelweide jubelte schließlich „ich han min lehen“! Literatur- und Kunstpreise sind ein punktueller Dank der Gesellschaft für Tätigkeiten, die Unkalkulierbares schaffen. Besonders die Lyrik ist das schlechthin Unkalkulierbare, das Ausdruckswagnis auf minimalem Raum, dem Subversiven und Gebrochenen nahe – und fremd gegenüber den geglätteten Fassaden der Einkaufszentren.

Von der Lyrik zu Prosa von Ursula Krechel überzugehen, ist ein fast unmerklicher Grenzübertritt. Denn ihre Prosa ist eine, die auf denselben Fundamenten der feinsten Wahrnehmung, des scharfen Blicks, der genauesten Formulierungsgabe ruht. Man könnte sagen, Ursula Krechel sei überhörig, ausgestattet mit der Gabe oder dem Fluch des absoluten Gehörs. Das kann man schon in den kleinen, rätselhaften Prosatexten spüren. In Die Freunde des Wetterleuchtens (1990) finden wir ungelöste, oft unangenehme, beklemmende Situationen. Eine alte Frau sitzt da, reflektiert stumm, während die Erben warten. Ein durch Stipendien gefördertes Mädchen gerät in eine fremde Familie, in der sie belehrt und beschenkt wird, aber völlig fremd bleibt. Eine Frau hat sich freigenommen, will einkaufen, sie ist depressiv, findet keine Lösung ihres Lebensproblems. Das erinnert in seiner Offenheit und enigmatischen Verschlossenheit an die Geschichten der kanadischen Nobelpreisträgerin Alice Munro, auch sie eine meisterhafte Beobachterin von kleinen Gesten, Bewegungen, abgebrochenen Sätzen, hinter denen die Menschenschicksale liegen.

Um die Schicksale von Menschen geht es schließlich in den drei großen Büchern, Romanen, Shanghai fern von wo, Landgericht und Geisterbahn. Der Roman Shanghai fern von wo ist aus einer Hörfolge (1996) und einem Hörspiel (1998) erwachsen. In ihm geht es bekanntlich um das Schicksal deutscher und österreichischer Juden, denen 1938 als „letztes Schlupfloch“ Shanghai angeboten wurde und die sich nun, in eine völlig fremde Welt hineingeworfen, irgendwie erhalten müssen, wie auf einer Eisscholle treibend. Einer besaß eine Schreibmaschine mit Namen „Erika“. Das traf mich wie ein Blitz; denn ich schrieb 1961 bis 1980 auf einer „Erika“, einem Geschenk meiner Mutter aus dem Jahr 1938.

Aus dem Massenelend in Shanghai mit seinen Schrecken und seiner Komik, drängte sich ein Einzelschicksal hervor, das des Juristen Kornitzer und seine Frau Claire, er rassisch verfolgt, sie „Arierin“, zwei Kinder, die nach England geschafft werden. In diesem Roman geht es um einen tüchtigen Juristen, der im Grunde das Unrecht, das ihm angetan wird, bis ans Ende nicht versteht. Er versteht nicht (und da hat er völlig Recht), was die Nazis ihm und seiner Familie antun, aber versteht auch nicht, zurückgekehrt, wie die Mainzer Justiz und die Bürokratie der so genannten Wiedergutmachung mit ihm umgehen. Alles ist ihm fremd geworden, auch seine Frau (nach dem ergreifenden Wiedersehen im Bahnhof von Lindau am Bodensee) und erst Recht seine englisch aufgewachsenen Kinder. Fremd sind ihm ebenso die eigentlich vertraute Justiz und ihr Denken, ihr Formalismus und ihre schamvolle Stummheit. Denn nun entdeckt er, was Juristen zutiefst beunruhigen müsste, dass nämlich „die Rhetorik des Rechts nahezu ununterscheidbar von der Rhetorik des Unrechts“ ist. Er erkennt, wie leicht aus den schulgerecht argumentierenden Juristen, die wir alle kennen, auch „Furchtbare Juristen“ werden können, die blassen Verwalter des Bösen, die hinter ihren Schreibtischen sitzen und niemals bestraft werden, eben jene, von denen man angeklagt wird, ohne dass man seine Schuld kennt, wie Josef K. im Prozess.

In diese Bürokratie- und Justizmaschine, die nur den Vorwurf der „Andersartigkeit“ kennt, gerät auch die Schaustellerfamilie Dorn, eine Sintifamilie durchaus bürgerlichen Zuschnitts, die alles erleben muss, was das NS-Regime sich ausgedacht hat, um die fiktive Identität des deutschen Volkes mit mörderischen Mitteln herzustellen: Sterilisation, KZ, Berufsverbot, Vertreibung und Verschleppung, Zwangsarbeit. Und am Ende, wenn nahezu alles zerstört ist, beginnt erneut die von Juristen bediente Maschinerie der „Wiedergutmachung“ knarrend und mit vielen Rädchen und Hebeln zu arbeiten.

Dies alles zu lesen, ist unsere deutsche historische Last. Es scheint mir nicht nötig, dies weiter zu begründen. Das schließt aber keineswegs die Bewunderung für die künstlerische Gestaltung aus, ich meine fast im Gegenteil. Ursula Krechel gelingt es, aus dem genauen Studium der Akten, vor allem Wiedergutmachungsakten, Kunstwerke zu schaffen, die mehr sind als jedes Buch der Fächer Zeitgeschichte und Juristische Zeitgeschichte. Wir begegnen lebenden Menschen mit Freuden, Ängsten und Lebenswillen. Ursula Krechel verknüpft die Anschuldigungs- und Entschuldigungsphrasen der Akten, das wortreiche Wegschauen, mit genauesten Beobachtungen der Mosel-Landschaft zwischen Trier und Luxemburg, der Rummelplätze (in der Pfalz „Kerwe“ = Kirchweih) genannt, wo sich Zuckerwatte, Karussell, Schiffschaukel und Geisterbahn anbieten, die Geisterbahn als rührende einfache Vorform heutiger Horrorfilme und War-Games.  Immer sind es kleine Gesten, Details der Kleider, wenige Worte, stumme Abschiede von den Liebsten, die einen dichten Teppich von Menschenschicksal weben. Dass Ursula Krechels Vater Psychologe war (er kommt verwandelt in ihren Büchern vor) scheint sich irgendwie auf sie übertragen zu haben, nämlich die Achtsamkeit auf Signale menschlichen Verhaltens. Ursula Krechel hört das Gras wachsen. Ihr Gras sind die Nuancen der Sprache, die so oft falschen und verräterischen Klänge der Sprache, aber auch ihre pure Schönheit, das Licht auf den Weizenfeldern und den Schlachtfeldern, Licht auf die kleinen Glücksmomente und die langen Grausamkeiten.

Den Jean Paul-Preis bekommt sie mit größtem Recht. Sie hat ein auch für den geübten Leser kaum zu meisterndes Werk aufgetürmt, hat an ihm mit der ihr eigenen (wenn ich so sagen darf) mädchenhaft-zarten Zähigkeit immer weitergebaut, und wir sind sicher, dass das auch so weitergeht. Sie kann nicht anders. Gottfried Benn nannte es „Ausdruckszwang“. Damit müssen wir Leser uns bescheiden. Apropos Leser: Auf einem der unzähligen Zettel von Jean Paul steht: „Anfangs ist der Autor froh, wenn er nur gelesen wird; später freuet er sich über keinen Leser, sondern will Käufer“.  Verehrte Zuhörer, überhören Sie diesen Wink nicht!

Herzlichen Glückwunsch, liebe Ursula!

 

Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Michael Stolleis ist ein deutscher Jurist und Rechtshistoriker. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2006 war er Professor für Öffentliches Recht und Rechtsgeschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von 1991 bis 2009 war er Direktor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte.