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22.06.2018, 11:48 Uhr
Marlena Simmet
Spektakula

Bericht zur Tagung "Eleganz und Eigensinn" zum Werk Hans Pleschinskis

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Hans Pleschinski / © C. H. Beck

Vergangenen Freitag widmete die Monacensia im Hildebrandhaus unter dem Motto 'Eleganz und Eigensinn' dem Autor und Übersetzer Hans Pleschinski einen gesamten Tag. Organisiert wurde die Tagung von Dr. Laura Schütz und Dr. Kay Wolfinger vom Institut für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Das Kulturreferat der Landeshauptstadt München und der C.H. Beck Verlag übernahmen die Förderung.

Hans Pleschinski studierte Germanistik, Romanistik und Theaterwisschenschaft in München. Er arbeitete außerdem in Kunstgalerien, am Theater und seit 1985 auch beim Bayerischen Rundfunk. Für sein Schaffen erhielt er mehrere Preise, u.a. den Literaturpreis der Stadt München und zweimal den Tukan-Preis.

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Obwohl Pleschinski als Schriftsteller große Popularität genießt, wurde sein Werk von der Wissenschaft bisher noch zu selten beachtet. Bei einem Autor, dessen Schaffen solch große Vielseitigkeit und Tiefe aufweist, muss dem entschieden entgegengewirkt werden. Die Veranstaltung wollte den ersten Schritt dazu wagen. Verlagsleute, Wegbegleiter und Wissenschaftler referierten aus unterschiedlichsten Blickwinkeln über Pleschinskis Werk und versuchten, sich dessen Bandbreite – es handelt sich um 22 Bücher, die innerhalb von vier Jahrzenten entstanden sind – zu nähern.

Die interdisziplinäre Tagung beging damit den ersten Schritt in Richtung Kanonisierung von Pleschinskis Werk. Man erhielt als Tagungsteilnehmer interessante Einblicke aus neuen Perspektiven. Es wurde Anregung für ungewöhnliche Lesarten gegeben, hitzig diskutiert und musikalisch überrascht. Der Autor selbst erschien erst abends zu seiner Lesung, da es ihm, so der Autor, „unziemlich“ erscheine, der Tagung beizuwohnen. Ein erstes Indiz für Pleschinskis Nonchalance und Zurückhaltung.

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Nach der Begrüßung durch die Organisatoren Dr. Laura Schütz und Dr. Kay Wolfinger, die in ihrer Einleitung Pleschinski als „höchst eigensinnigen Störfaktor“ und sein Werk als „Fest der Kultur" bezeichnen, gelingt Prof. Dr. Friedrich Vollhardt von der Ludwig-Maximilians-Universität München ein spannender Auftakt. Der Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft ist seit 2004 Ordinarius mit dem Schwerpunkt Literatur der frühen Neuzeit. Mit Pleschinski verbindet Vollhardt nicht nur die Leidenschaft für Barockliteratur, sondern auch ganz persönliche Reminiszenzen. Die beiden waren in den 1970er Jahren Studienkollegen in München. Der Vortrag Friedrich Vollhardts ist überschrieben mit: Der Herzog, die Künste und das Leben. Hans Pleschinski und die deutsche Barockliteratur.

 

Prof. Dr. Friedrich Vollhardt / © Marlena Simmet, Literaturportal Bayern

 

Vollhardt beginnt seine Rede mit einem Zitat des Schriftstellers Rainald Goetz, in dem das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart innerhalb der Literatur thematisiert wird. Goetz betont, dass für ihn das Interessanteste und Geheimnisvollste die Betrachtung der Gegenwart sei. Pleschinski würde, so Vollhardt, seinem Schriftstellerkollegen vermutlich mit den Worten begegnen, dass es nicht allein auf die Gegenwart ankomme, sondern vor allem darauf, die Geschichte in Texten zum Sprechen zu bringen, um durch sie die Gegenwart erst wirklich begreifen zu können. Pleschinskis Fähigkeit, die entlegensten Ecken der Vergangenheit zu beleuchten und diese in die heutige Zeit zu übersetzen, auch sein damit verbundenes immenses historisches und literarhistorisches Wissen, stellt Vollhardt im Folgenden am Beispiel des 1986 erschienenen Werkes Der Holzvulkan dar.

Bevor Vollhardt seine Interpretation vorträgt, geht er kurz auf die Ausgangssituation der Erzählung ein: Ein amerikanischer Germanistik-Student aus Berkeley befindet sich auf einer Reise nach Deutschland, Ziel ist Wolfenbüttel. Während einer Rast auf einem Autobahnparkplatz trifft der Protagonist bei schwerem Regen auf eine „Geistererscheinung“. Ein alter Mann, der sich später als Bibliothekar herausstellt und dem Studenten Obdach gewährt, lädt ihn zu einer imaginären Führung durch das von Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel errichtete Lustschloss von Salzdahlum ein, das sich ehemals genau an jener Stelle befand und von dem nichts mehr übrig ist. Bei dieser Unternehmung zieht sich der Student eine Erkältung zu. Fieberkrank hält er seine Erlebnisse in einem an seinen Kommilitonen Charles gerichteten Brief fest. Mit Anklang an das Zeitalter des Barock arrangiert Pleschinski also geschickt, dass sich sein fiebernder Erzähler in einem Zustand zwischen Traum und Realität befindet, als er den Brief schreibt. Ganz nach der Devise: das Leben ist ein Traum, die Wirklichkeit eine Illusion.

Der Erzähler schildert in seinem Brief zunächst das Kunstimperium, das Ulrich bereits vor dem Bau seines Schlosses schuf. Staatsballette, an denen der gesamte Hof mitwirkte, Theater und Singspiele nach Vorbild Frankreichs und der italienischen Oper gehören dazu. Die Erschaffung eines wahren Hollywood. Auch eine Referenz auf Federico Fellini bringt Vollhardt zur Sprache. Schon hier merkt der Zuhörer, auf welche Art es Pleschinski gelingt, dem Leser das Zeitalter des Barock zu erklären und in die Gegenwart zu übersetzen. Bereits im Untertitel der Neuauflage des Holzvulkan von 2014, in dem von einem deutschen Festbrief die Rede ist, wird deutlich, dass es sich bei Pleschinskis Text um einen Lobgesang handeln muss, bezieht sich das Wort Festbrief doch auf die antike Form der Eloge, die Lobrede.

Auch Pleschinskis historische Arbeitsweise verdeutlicht sich; er muss sich beim Verfassen seines Werkes auf damals noch jüngste Forschung bezogen haben. 1979 fand in Wolfenbüttel erstmals eine Tagung zur barocken Festkultur statt, bei der auch die Schaffensperiode des Herzog Anton Ulrich beleuchtet wurde. Später im Roman, als bei einem Gespräch zwischen dem Protagonisten und dem Bibliothekar über die Romane Anton Ulrichs das Wort Genesis fällt, kann der Leser eine Hommage an den amerikanischen Wissenschaftler Blake Lee Spahr erkennen, der 1966 eine Studie mit dem Titel Anton Ulrich and Aramena: The Genesis and Development of a Baroque Novel publizierte – von Pleschinski geschickt eingefädelt und nur von einem Kenner der Barockwissenschaft erkennbar. Veröffentlicht wurde jene Studie zudem in Berkeley, dem Ort, aus dem auch der Protagonist in Pleschinskis Roman stammt.

Als die Handlung der Erzählung dann ihren Höhepunkt erreicht, wird die Schaffensperiode des Herzogs als kunstvernarrter Bauherr beleuchtet. Hier lässt sich die Motivik der Maskerade erkennen. Der fantastische Plan des Herzogs, ein Holzschloss zu erbauen, ist als Sinnbild für das Leben des Barockzeitalters zwischen Schein und Wirklichkeit, für die Vermischung von Traum und Realität zu verstehen. Das Holzschloss als Blendwerk, dessen baldiger Verfall abzusehen ist, verweist auch auf ein weiteres Motiv des Barock, das Schaubild des Todes.

Pleschinskis Text wendet sich anschließend einer Ernsthaftigkeit zu, die mit der Schaffensphase des gealterten Herzogs als Romanschreiber einhergeht. Sein Protagonist entdeckt Ulrichs teilweise 12000 Seiten dicken Werke, in denen man es mit 600 bis 1000 Figuren zu tun hat – wieder Sinnbild für das Wechselspiel von Sein und Schein: Personen, die verschwinden, an anderer Stelle in Maskerade auftauchen, Verwirrung stiften und doch alle Teil eines allumfassenden Plans sind.

Das Kompositionsprinzip ist dabei die Verkörperung der barock-metaphysischen Welt: Man kann die Ordnung nicht mehr überblicken, jedoch sicher sein, dass es sie gibt. Betrachtet man Anton Ulrichs Arbeiten am Roman Römische Octavia, so wird dessen konkrete geschichtliche Dimension erkennbar. Wie auch Pleschinski überführt Ulrich Vergangenheit in Gegenwart. Bei den historischen Fakten bezieht er sich auf römische Geschichtsschreiber und die Darstellungen des unterirdischen Roms von Antonio Bosio, roma soterranea, und verbindet sie mit der Geschichtsschreibung der damals bekannten Welt.

Vollhardt rezitiert des Weiteren ein Gedicht aus Anton Ulrichs später Schaffensperiode, das als eines der ergreifendsten Gedichte der deutschen Literatur gilt. Es handelt sich um das Strebelied des Autors, das auch von Pleschinski sehr geschätzt wird. Pleschinskis Interpretation steht der gängigen literarhistorischen Einordnung jedoch entgegen. Das erschöpfte lyrische Ich behalte sich bis zuletzt seine Sehnsucht nach dem Schönen und Vollendeten, so Pleschinski. Auch das klingt für einen Autor des Barock sehr modern.

Vollhardt beendet seinen Vortrag mit dem Hinweis, dass im westdeutschen Forschungs-Diskurs der 1970er und 80er Jahre das Zeitalter des Barock keinerlei Beachtung fand. Der Begriff der Feudalabsolutistischen Literatur musste sogar aus der DDR in den Westen überführt werden, da die Barockliteratur in der BRD schlicht nicht vorkam. Pleschinski füllte mit seinem Festbrief dieses Vakuum ein Stück weit.

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Die Tagungsgesellschaft verlagert sich nun in den Garten der Monacensia, wo bei kleinen Häppchen und Getränken weiter diskutiert werden kann. Der Vortrag von Dr. Oliver Bach von der LMU München muss krankheitsbedingt leider ausfallen. Er hätte den Titel Notstand in Notland. Hans Pleschinskis „Die Wunder von Troglau“ getragen.

Im Anschluss an die verlängerte Pause wird es maritim. Prof. Dr. Martin Hielscher vom C.H. Beck Verlag widmet sich der Diskussion und Verteidigung europäischer Werte in Pleschinskis Werk. Sein Vortrag lautet: Der Roman als Schiff. Polyphonie und Emanzipation in Hans Pleschinskis „Brabant“.

Zur Eröffnung verweist Hielscher auf die Wahlverwandschaft von Navigieren und Erzählen, wie sie Volker Klotz in seinem Werk Erzählen beschreibt. Nautische Metaphern ziehen sich durch die gesamte Geschichte der Literatur. Die Schifffahrt als Sinnbild war schon immer Bestandteil des Erzählens, angefangen mit der Odyssee über die Werke von Alfred Döblin bis hin zu Álvaro Mutis Schaffen. In Pleschinskis Roman Brabant (mit Betonung auf der ersten Silbe, wie Hielscher anmerkt), veröffentlicht 1995 und in Neuauflage 2004, kann man bereits im Untertitel, Roman zur See, wie auch an dem Schauplatz der Handlung selbst jene Wahlverwandschaft verorten. Hielscher weist allerdings auch darauf hin, dass Brabant im Gegensatz zu anderen Werken der Literatur eben nicht versucht, die Metapher der Schifffahrt als Lebensweg zu bedienen, sondern dass Brabant vielmehr als Abenteuerroman in Vermischung mit dem Gesellschafts- und Diskursroman zu verstehen sei. Als eine Art Hybrid.

 

Prof. Dr. Martin Hielscher / © Marlena Simmet, Literaturportal Bayern

 

Die Brabant, ehemaliger Bestandteil einer Kolonialflotte, die ständig wechselnde Funktionen inne hatte und schließlich zum Hotelschiff umgebaut wurde, ist besetzt mit Passagieren, die aus fast 30 unterschiedlichen europäischen Ländern stammen. Das Schiff ist Ort permanenter Kunstübungen, Feste und Musikdarbietungen. Ein Ort der „Vergesellschaftung einer künstlerischen, diskursiven, praktischen und erotischen Einigung“. Die Tatsache, dass ein neues Euro-Disneyland, Sinnbild der Plastikkultur Amerikas, in der ewigen Stadt Rom entstehen soll, veranlasst die Besatzung dazu, Amerika anzusteuern und der Nation den Kampf anzusagen – buchstäblich. Im Schiffsbauch schlummern als Überbleibsel vergangener Tage noch immer Kanonen, die zum Einsatz gebracht werden sollen. Ziel ist das Pentagon. Die USA bilden mit ihrer „gleichgeschalteten und seelenlosen“ Kultur den sinnbildhaften Feind der Crew, die in ihrer Heterogenität die Idee Europas verkörpert.

In den diskursiven, vielschichtigen und bisweilen paradoxen Gesprächen der Crew wird allerdings auch klar, wie untrennbar die Geschichte und die Kultur Europas mit Amerika verwoben sind und dass das, was als amerikanische Kultur bezeichnet wird, nichts anderes als die „Spiegelfratze“ des Eigenen darstellt. Amerika bildet somit nur bedingt den wirklichen Feind. Eigentlich wird etwas im Inneren der eigenen Kultur angegriffen, das lediglich auf Amerika projiziert wird.

Brabant impliziert auch Züge eines postkolonialistischen Romans, so Hielscher. Das ehemalige Schiff einer Kolonialflotte steuert auf das Land zu, von dem Europa im 20. Jahrhundert technischen und institutionellen Fortschritt sowie die Demokratie aufgezwungen bekam, wenngleich dies zum Wohl der europäischen Staaten geschah, insbesondere zum Wohl des faschistischen Deutschlands. Europa fühlt sich also in gewisser Weise von den USA kolonialisiert. Greift nun die Besatzung der Brabant Amerika an, so ist dies als ein „historischer Paradigmenwechsel“, als „Verschiebung der Macht“ zu verstehen.

Der Roman ist reflektiert, hoch polyphon und vermischt Komisches mit Tragischem. Er ist von fast testamentarischem Charakter. Die Fahrt der Brabant kann nämlich auch als Todesfahrt gesehen werden. Mehrere Figuren an Bord sterben oder begehen einen Selbstmordversuch. Hielscher merkt dazu an: Bestattungsrituale gehören zu den ältesten, ursprünglichsten Formen der Vergesellschaftung, sie konstituieren die Gesellschaft, bändigen Angst und bilden Gemeinschaften der Überlebenden. Das passt zur Sinnsuche der Europäer nach einem alles verbindenden Ganzen, einer „tragenden Form“, die sich etwa in einer gemeinsamen Sprache unter den Reisenden manifestiert. Und hier geht es nicht um das Kauderwelsch aus unterschiedlichsten Sprachen, das sich unter den Passagieren bildet. Sondern um eine gemeinsame Sprache, die jenseits jeglicher Semantik steht.

Neben der Ebene der Sprache gibt es im Roman auch noch eine weitere: das musikalische, chorische, gesangliche Moment. Brabant ist durchzogen von musischen Formen, alten wie neuen – von Arien, Songs, Klavierspiel, Shantys, Ouvertüren, Tänzen und, an dieser Stelle huldigt Pleschinski wieder dem Barock, der immer gegenwärtigen Musik Georg Friedrich Händels. Die Oper Alcina kann sogar als Subtext zu Brabant verstanden werden. Die Zaubererin Alcina kehrt dabei in der zentralen Figur der Madame Toussaint wieder.

Doch selbst Prisen von politischem Realismus können in dem Roman wahrgenommen werden, etwas, das man vielleicht nicht sofort mit dem Autor Pleschinski verbinden würde. Themen wie Ressourcenknappheit, der Konflikt mit Nordkorea und die stetige Bedrohung durch Nationalismus klingen im Roman an.

Hielscher verweist zum Schluss noch darauf, dass auch das ungewöhnliche Begriffspaar Europa und Liebe innerhalb des Romans auftaucht. Und wird die Kanone auf das Pentagon abgeschossen, so schlägt diese nur in der Böschung vor dem Gebäude ein. Gewalt wird bewusst vermieden. Die Brabant, die einmal selbst in Flammen aufgeht, ist ein altes, erprobtes Schiff, dem das Feuer nichts anhaben kann. Es ist in seiner Geschichte schon durch viele Metamorphosen gegangen, sie ist vielseitig nutzbar und offen für jeglichen Gebrauch. Ihre Langsamkeit ist zudem ein Vorteil gegenüber neuen Schiffen und deren Technik. Die Brabant erscheint so wie eine Metapher für den Roman als literarische Form: „Der Roman als Schiff“.

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Es folgt gleich im Anschluss der Vortrag von Prof. Dr. Hans Rüdiger Schwab, der an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen lehrt und mit Hans Pleschinski ebenfalls freundschaftlich verbunden ist. Er spricht zu Bild und Rede von der menschlichen Kontingenz in „Ludwigshöhe“.

Schwab hält mit seinem Vortrag gegen die sich eingebürgerte Meinung, dass Pleschinski allzu plakativ in der Öffentlichkeit „als Meister eines leichten Tons“ bezeichnet wird. Denn auch ein „herausfordernder Ernst“ ist in Pleschinskis Werken allgegenwärtig. Darstellungen von Krankheit, Tod, Phänomene des Defizitären und Unsicheren, Dinge die den Menschen bedrohen, sind Teile seiner Bücher, denkt man z.B. an Bildnis eines Unbekannten oder Leichtes Licht. Auch in Brabant klingen ernste Töne an. In jener Ernsthaftigkeit kann man nun der Wirklichkeit der Kontingenz begegnen. Gemeint sind Grundbedingungen mit denen sich jeder Mensch konfrontiert sieht, Ordnungsbrüche, die oft persönliche Leiden als Ausgangspunkt haben. Die Selbsttötung, das zentrale Thema in Ludwigshöhe, kann dabei als eine Möglichkeit, um jener Kontingenz aus dem Weg zu gehen, verstanden werden.

Die Romane Brabant und Ludwigshöhe, denen beiden derselbe Prätext zu Grunde liegt, lassen den Vergleich mit Thomas Manns Zauberberg zu. Referenzpunkt ist Manns Darstellung der „todesverhafteten Welt“ im Sanatorium. Thomas Mann definiert in seinem Roman, Krankheit und Tod als ein notwendiges Durchgangsstadium, um Wissen, Gesundheit und Leben zu erhalten. Der Zauberberg gilt daher als Initiationsroman.

Statt des europäischen Mikrokosmos, wie in Brabant, dreht sich die Handlung von Ludwigshöhe um eine Gruppe von lebensmüden Persönlichkeiten aus Deutschland. Die rund zwanzig Personen, die sich in der Jugendstilvilla zusammen gefunden haben, bilden einen bunt zusammen gewürfelten Haufen. Die Diskussionen unter den Figuren drehen sich zuweilen um alltägliche Befindlichkeiten, Dreh- und Angelpunkt bleibt dabei aber die Befindlichkeit zum Tod. „Thomas Mannsche Verlockungen der Todeserotik“, wie es Schwab formuliert, entstehen in Pleschinskis Werk aus sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten seiner Figuren, zu tiefst angeschlagenen und in Not geratene Existenzen.

Die Personen, gefangen in „äußeren und inneren Ohnmachten“ stehen als Sinnbild einer auf Selbstoptimierung und Glück getrimmten Gesellschaft, der man nicht mehr gewachsen zu sein glaubt und die von einem „Alltagsgrau“ durchdrungen und gleichgeschaltet ist. Dabei stellt sich die Frage, wie jene Ohnmacht in einem Land wie Deutschland mit seinen „Hilfsnetzen vor dem Sturz“, seine Bürger nett verwöhnend, überhaupt aufkommen kann. In einer Gesellschaft, die noch nie so frei war fühlt sich der Mensch jedoch gefangen. Der Kreislauf von Banalitäten innerhalb der Konsumgesellschaft drängt die Figuren des Romans in ihr Elend und ihre Tristesse. Permanenter Druck und Stress generiert sich aus der Eigenlogik der Leistungsoptimierung, des Fortschritts und reiner Rationalität. Angesichts dessen entwickelt sich der Gedanke an den Selbstmord als eine Fantasie der „definitiven Sabotage“. Kontingenz wird hier also in den Zwängen gesellschaftlicher Imperative sichtbar, sie wird nicht nur innerhalb der Gesellschaft erlebt, sondern auch durch sie vermittelt.

Eine andere Facette der Kontingenz lässt sich ferner in schweren körperlichen und mentalen Gebrechen ausmachen. Der Freitod erscheint dann besser als ein Dahinsiechen in Krankheit und weiterer Verbitterung darüber von körperlicher und geistiger Schwäche niedergedrückt zu werden. Auch diese Angst spiegelt das Scheitern an dem gesellschaftlichen Leitmotiv der Selbstoptimierung wider. Wie auch bereits in Hielschers Vortrag angeklungen, besteht also eine bedrohliche Tendenz in der Uniformität der gleichgeschalteten Menschheitsmasse, die sich durch Vergnügungssucht zu erkennen gibt und krampfhaft auf Mühelosigkeit und schale Attraktionen pocht. Einigen erscheint deshalb der Selbstmord auch als „Akt der Würde“.

 

Prof. Dr. Rüdiger Schwab / © Marlena Simmet, Literaturportal Bayern

 

Allerdings ist allen Gästen der Villa auf der Ludwigshöhe gemein, dass sie eigentlich nicht sterben, sondern eher nicht mehr leben wollen. Die Situation ist ohnehin sehr paradox. Denn der Wunsch nach Ruhe und Erlösung meint eigentlich die Sehnsucht nach einem besseren Leben und nicht die nach dem Tod. Die Figuren in Pleschinskis Werk bewegen sich auf der Grundfrage der Philosophie nach dem Sinn des Lebens. Der Mangel an Sinnhaftigkeit im Leben verbindet sich bei den Protagonisten mit dem Tod, dem Kontingenten schlechthin. Unter den „Finallisten“, wie Pleschinski seine Figuren betitelt, stellt sich auch die Frage nach dem Tod als Durchgang in eine andere Dimension, worin nun wieder das Thomas Mannsche Motiv der Initiation anklingt.

Keiner der Protagonisten ist sich allerdings wirklich sicher bei der Beantwortung dieser Frage. In der Ungewissheit jener Kontingenz gilt es sich also zu fügen, denn der Tod ist unausweichlich und allgegenwärtig. Als ästhetisches Phänomen ist die Welt unter den Figuren des Textes nicht ertragbar. Schönheit macht Angst, denn auch sie ist vergänglich. Auch hier wieder der Anklang an barocke Motivik. Entgegen der natürlichen Verdrängung des Todes, beharrt der Roman in seiner Vielschichtigkeit auf der Auseinandersetzung mit dem Tod als stetigen Begleiter.

Thomas Manns Der Zauberberg sollte ursprünglich ein humoristisches Gegenstück zur Novelle Der Tod in Venedig bilden. Das Zusammenspiel von Beglückendem und Scheußlichem spiegelt sich auch bei Pleschinski wider. So finden sich Witz, Satire, Doppelbödigkeiten und Süffisanz in Ludwigshöhe. Vieles ist zum Lachen, was allerdings die Ernsthaftigkeit des Leitthemas nicht dementiert. Abgründe und Lächerlichkeiten fließen gleichberechtigt nebeneinander her. Pleschinski verweigert bei „essentiellen Kernfragen“, die in seinen Romanen immer wieder aufgeworfen werden, eine eindeutige Beantwortung. Stattdessen herrschen Vermischungen vor, unterschiedliche zum Teil sich widersprechende Positionen werden in verwirrenden Zeiten dargestellt. Durch die Vielschichtigkeit der Welt ist eine Festlegung auf die eine Wahrheit nicht mehr möglich. In Pleschinskis „Ping-Pong“-Dialogen geht es um dargestellte Ratlosigkeit, die den Leser schließlich auf das Problem der Kontingenz stoßen lässt. Der Leser soll sich Gedanken machen. Mit den Zitaten „Alles blieb so herrlich schrecklich wie es war“ und „alles stimmt nie ganz“ aus Ludwigshöhe schließt Schwab dann seinen Vortrag.

Nach der Mittagspause, bei der sich die Tagungsteilnehmer mit Quiche und Kaffee stärken können, folgen die Vorträge der Schriftsteller Gerhard Henschel und Dr. Eva-Gesine Baur, deren Themen nach der Ernsthaftigkeit des vorherigen Redners wieder mehr den Festcharakter in Pleschinskis Werk betonen und dessen frühe Schaffensperiode in den Mittelpunkt rücken. Die Rede Gerhard Henschels trägt den Titel Rebellion und Contenance. Zu Hans Pleschinskis Frühwerk.

Zu Beginn zitiert Henschel Passagen aus Werken von Bernward Vesper und Rolf Dieter Brinkmann, um so Pleschinskis Frühwerk in die Literatur der damaligen Zeit zu verorten. Pleschinski, der 1984 seine Karriere gleich mit drei Veröffentlichungen beginnt, lässt zwar ebenso, wie seine Kollegen, Kritik an seiner Heimat, der Ostheide, verlautbaren, sie käme bei ihm jedoch weitaus „nonchalanter“ daher, wie es Henschel ausdrückt. Pleschinski, der dem Klischee des Schriftstellers zum Trotz, eine wohl „gesegnete“ Jugend erfuhr, steht damit im Gegensatz zu den Beschreibungen seiner Autoren-Kollegen, die Kinder des Krieges waren und sich gegen ihre Väter versuchten aufzulehnen. Bei Pleschinskis Ostsucht lässt sich durchaus zwischen den Aussagen der Hauptfigur und dessen Autor eine Parallele ziehen, wenn dieser von einer „glücklichen Kindheit und besten frühen Jugend“ spricht. Pleschinski, mit einer angeborenen Contenance ausgestattet, verwehrt sich der Welt mit Hass zu begegnen, wenn er ihre Defizite jedoch auch erkennt und diese beschreibt.

Auch Pleschinskis Verhältnis zu seinem Vater, einem Handwerker, sei unbeschwert gewesen, der ihm stets ein „Laissez-faire“ gewährte. Pleschinski achte seinen Vater und möge diesen uneingeschränkt, wie er 2001 anmerkte. Pleschinski beweist aber, dass eine glückliche Kindheit keineswegs einen „geschärften Blick auf die Wirklichkeit“ verhindert. So findet sich zum Beispiel die Metapher eines Zementkübels bepflanzt mit einer bereits vertrockneten japanischen Zierpflanze als leitmotivisches Sinnbild für das falsche Leben und die Hässlichkeit des öffentlichen Raums sowohl in Pleschinskis Frühstückshörnchen als auch später in seiner Novelle Zerstreuung. In jener Novelle klingt dann auch Kritik an der Uniformität der westdeutschen Innenstädte an. Anders als bei Brinkmann trägt Pleschinski seine Abneigung gegen die moderne Architektur allerdings ganz „unaufgeregt“ und „dezent“ vor, womit der Autor seinen Stil bereits schon in seinem Frühwerk gefunden hatte.

So musste Pleschinski dann auch die in den 1970er Jahren entstehende Innerlichkeits- und Bekenntnisprosa verachten, die als völlig formlose Literatur daherkam. Er verfasste dagegen jedoch keine Polemik, sondern eine Parodie, nämlich den Roman Gabi Lenz. Pleschinskis Werke seien fast alle „burlesk und verspielt“, sein Hang zur Melancholie sei jedoch ebenso vorhanden. Jene Melancholie verbirgt sich bei Pleschinski allerdings unter dem Deckmantel von Kunst. Denn vielleicht schütze Kunst vor Verzweiflung, wie Pleschinski es nennt. Henschel geht deshalb auf ein Erlebnis des Autors ein, der sich elfjährig auf einer Reise nach Dresden befindet und bereits hier seinen Hang zur Schönheit entdeckt mit der er danach versucht das Schreckliche zu ummanteln. Auch Pleschinskis literarhistorische Leidenschaft für versunkene Güter der Vergangenheit rührt daraus. Denn Pleschinski, wie er es in einem Interview erzählt, halte Geschichte stets für gerade abwesende Gegenwart. So entstand also aus Pleschinskis Auflehnung gegen eine funktionalistische Gegenwart ein Lebenswerk, das bereits in seinen Anfängen „dem Wahren, Guten und Schönen verpflichtet war“.

 

Gerhard Henschel / © Marlena Simmet, Literaturportal Bayern

 

Die Freundin und Schriftsteller-Kollegin von Pleschinski, Dr. Eva Gesine Baur, spricht nun von dem Verbot der Nüchternheit in Pleschinskis Werk, wie auch einer seiner Buchtitel lautet, und beschreibt in ihrem Vortrag dessen Mut zur Festlichkeit.

Auch Baur betont, dass Pleschinskis Herkunft, die keineswegs die aus einem künstlerischen Haushalt ist, für sein Prinzip der Festlichkeit eine große Rolle spielt. Das „tolle Nichts“, dass in Ostheide beschrieben wird sei buchstäblich ein Schlüssel dazu. Auch wenn die Ostheide mit seinen unendlichen Weiten und Mooren eine „Anti-Toskana“ bilde, so findet Pleschinski in ihr doch das „tolle“, das „verrückte“. Verrückt sei dabei genau das, was für Pleschinski in seinen jungen Jahren Festlichkeit bedeute. Die Dinge werden an eine andere Stelle verschoben, sodass Nebensächlichkeiten in das Blickfeld geraten und das Kleine groß wird. Pleschinski erkennt bereits in seiner Kindheit Pracht und Geborgenheit da, wo andere Hässlichkeit und Trostlosigkeit sehen. Das Ausmachen von Festlichkeit in Simplizität käme dabei auch von Pleschinskis Leidenschaft zum Theater. Denn auch hier ist es möglich mit einfachsten Mitteln etwas Großes darzustellen.

Der Theaterregisseur Max Reinhardt definierte den Schauspieler einmal als jemanden, der seine Kindheit in die Tasche stecke und diese nie wieder hergebe. Baur komme es so vor, als habe auch Pleschinski dies getan. Sie beschreibt wie der Autor in seiner Kindheit die Feste seines Vaters erlebt, der es vermochte in einem mit einfachsten Mitteln ausgestatteten Raum wahre Lustveranstaltungen zu arrangieren, bei denen ausgewählte Köstlichkeiten wie Reh, Champagner, Zungenragout und Vanille-Pudding serviert wurden. Er lernte somit früh, dass Festlichkeit keine Frage von Reichtum ist, sondern sich auch mit anderen Mitteln herstellen lässt.

Baur spricht von einer „Geborgenheit des Festlichen“ mit der sich Pleschinski umgibt, und die ihm als Heilmittel für seine Ängste dient. Pleschinski habe als Kind viele Ängste besessen, wie beispielsweise die Angst vor dem Unermesslichen, dem Wald, dem Verlassenwerden, dem Versagen oder der drohenden Flut. Festlichkeit bedeute für Pleschinski Struktur. Struktur als etwas, das Halt gibt, wenn man sich verloren fühlt. So habe er schon als Kind die Fähigkeit besessen sich solche Strukturen selbst zu errichten. Er sah sie überall dort, wo andere sie nicht finden konnten, z.B. in der Geborgenheit der Einöde einer Landschaft. Er sah sie auch in der Sinnlichkeit der Geschichte.

Schon früh konnte dabei Pleschinskis Neigung ausgemacht werden, Geschichte „zu brechen“, sie zum Leben zu erwecken und sie ironisch zu begreifen. Neben jener strukturierten Festlichkeit spielte auch die Ephemere bei Pleschinski früh eine Rolle, wie sie sich auch im Holzvulkan manifestiert. Jene „ephemere Kultur“ ziehe sich durch Pleschinskis gesamtes Werk „wie ein mauvefarbener Faden, golddurchwirkt“. Der Festcharakter vermag es in Pleschinskis Werk durch die Anwendung des hohen Tons Trennungen aufzuheben und unerwartete Begegnungen zu generieren. Denn den hohen Ton gewährt der Autor all seinen Figuren, ganz gleich woher diese stammen. Der Schönheitssinn Pleschinskis geht dabei mit einer hohen Empfindsamkeit für das Ästhetische, aber eben auch für das Hässliche einher. Der Autor kann Schönheit überall entdecken und ihn vom alltäglichen Grau befreien. Jener „Mut zur Anmut“ ist es dann auch, der es vermag den Pleschinski-Leser zu erheben.

 

Dr. Eva Gesine Baur / © Marlena Simmet, Literaturportal Bayern

 

Nachdem sich Henschel und Baur den Fragen des Publikums stellen und noch ein wenig aus dem Nähkästchen plaudern, wie sie Hans Pleschinski kennenlernten, folgt eine kurze Nachmittags-Pause, nach der Prof. Dr. Oliver Jahraus von der LMU München das Podium betritt. Er widmet seinen Vortrag den Abgründen Thomas Manns und referiert über Hans Pleschinskis Roman Königsallee.

Jahraus lädt sein Publikum dazu ein, den Roman nochmal mit ihm zu lesen. Es folgt die Reise zurück ins Düsseldorf des Jahres 1954, wo Thomas Mann in dem Hotel Breidenbacher Hof auf seine frühere Liebe Klaus Heuser trifft. Zunächst liest Jahraus die ersten beiden Absätze des Buches, wo das Wort „Ausnahmezustand“ fällt. Neben dem Wiedersehen zwischen dem Nobelpreisträger und dessen Jugendliebe verfolgt der Roman auch noch eine weitere Erzähllinie, nämlich die der Reise Thomas Manns nach Düsseldorf und der Vorbereitungen des Hotels für die Ankunft des berühmten Dichters.

Die Zusammenkunft von Heuser und Mann beschreibt Jahraus dann als fast „mythische Begegnung“, denn in jener Szene komme sich Thomas Mann so vor, als befände er sich selbst in einem Roman, womit wieder die Metapher für die literarische Form des Romas entdeckt werden kann, die auch bereits Hielscher in seinem Vortrag in Brabant ausmachen konnte. Ein solches Treffen zwischen Heuser und Thomas Mann fand jedoch in Wirklichkeit nie statt, es hätte aber die Möglichkeit dazu bestanden, was abermals auf Pleschinskis immense Recherche-Leistung einen Hinweis gibt. Pleschinski arbeitet also auf einer Grundlage, die sich zwischen Faktualem und Fiktionalem bewegt. Jahraus möchte nun in seinem Vortrag jenen Möglichkeitsraum, der sich durch das Zwischenspiel von Fakt und Fiktion eröffnet, beschreiben. Dass Pleschinskis Werk dabei der Folie eines Romans seiner Figur Thomas Mann, nämlich der von Lotte in Weimar folgt, und man die Frage erörtern könnte, ob auch Pleschinskis Werk damit als eine schriftstellerische Selbstreflexion gesehen werden kann, will Jahraus dabei allerdings nicht besprechen. Der Redner will stattdessen herausarbeiten wo jene Analogie zwischen den beiden Werken nicht mehr funktioniere.

Jahraus nennt zunächst die Figur des Albert von Kesselring, einem ehemaligen deutschen Luftwaffenoffizier, der sinnbildlich für das Nazi-Deutschland steht. Diese Figur verkörpert für Jahraus dann auch die Thematik von „abgründiger Vergangenheit“, um die es in Pleschinskis Werk gehe. In Königsallee lassen sich zwei semantische Felder ausmachen. Zum einen das eben dieser Abgründe, zum anderen das Feld, welches sich um die Figur Thomas Mann spannt, der nun als Heilsbringer den Bann der noch immer gegenwärtigen Vergangenheit brechen soll. Jahraus definiert Pleschinskis Roman somit als politisches Werk, als eine Geschichtsschreibung der jungen Bundesrepublik und als einen Reflexionsroman über Vergangenheitsbewältigung. Hier stoppt Jahraus seine Rede und hält kurz inne. Moment, er fange nochmal von vorne an.

Nochmals liest Jahraus die ersten beiden Absätze des Textes. Weshalb werde hier eigentlich von „Ausnahmezustand“ gesprochen, fragt er dann. Geschickt und originell stellt Jahraus daraufhin einen Bezug von Königsallee zu Helmut Lethens kürzlich verfassten Buch Die Staatsräte her. Auch Lethen spielt, wie Pleschinski, mit dem Verhältnis zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen, allerdings aus der entgegengesetzten Perspektive, so Jahraus. Beide aber versuchen in ihren Werken herauszufinden wie politische Eliten im dritten Reich funktionierten und wie diese Funktionsweisen es vermochten in die Kulturgeschichte der BRD überführt zu werden. Durch den Vergleich mit Lethen will Jahraus seinem Publikum vor allem jene Lesart mit auf den Weg geben, in der man Königsallee als ein historisch und politisch hoch brisantes Werk verstehen kann.

 

Prof. Dr. Oliver Jahraus / © Marlena Simmet, Literaturportal Bayern

 

Bei Dr. Nastasja S. Dresler von der LMU München, der jüngsten Referentin der Tagung, wird nun das Dionysische in Pleschinskis Werk thematisiert. Ihr Vortrag lautet: Brevier für ein dionysisches Leben. Über ein Leitmotiv im Werk Hans Pleschinskis. Dresler weist zu Beginn ihrer Rede nochmals daraufhin welch großer Schritt durch die heutige Tagung beschritten wird, da Pleschinski nun auch erstmals wissenschaftlich ergründet wird, um schließlich auch eine Kanonisierung des Autors in die Wege leiten zu können. Sie beschreibt die Arbeit mit dem Werk des Schriftstellers als äußerst spannend, sogar als „hermeneutisches Abenteuer“. Ihr Vortrag solle nun lediglich einen Anstoß für eine mögliche Lesart von Pleschinskis Werken darstellen.

Die Referentin stellt zunächst an mehreren Werk-Beispielen Pleschinskis Hang zu „royalem Glanz“ heraus. Das Königliche interessiere den Autor dabei vor allem unter einem ganz bestimmten Aspekt, nämlich dem der Vermittlung einer rauschhaften Lebenskultur, so Dresler. Insbesondere die allgemeine Lebenszugewandtheit des französischen 18. Jahrhunderts sei es, die Pleschinski betont. Jene Hommage an das Leben und den Sinnesrausch begreift Dresler nun als dionysisches Prinzip und kann in dem Spannungsfeld zwischen Dionysischem und Apollinischem, wie es Friedrich Nietzsche beschreibt, einen Leitfaden für ein dionysisches Leben in Pleschinskis Werk entdecken.

Pleschinski weise zwei Besonderheiten auf. Zum einen die Fähigkeit, Schönheit auch im Alltäglichen und Unscheinbaren zu finden. Zum anderen jene Überführung von Geschichte in Gegenwart, die bereits in Beiträgen von Dreslers Vorrednern anklangen. Nicht nur Frankreich hat Schönheit und Sinnlichkeit der Kultur zu bieten, Pleschinski kann diese auch in der deutschen Zeit des Barock ausfindig machen. Denn schon das Barockjahrhundert vermochte es das dionysische Lebensmoment zurückzuholen. Der Autor versteht das Dionysische dabei als „Blut des Lebens“, wie es Dresler umschreibt, um sich Rettung vor den apollinischen Momenten des Lebens zu verschaffen.

Pleschinskis Werk ausschließlich als dionysisches Brevier zu lesen wäre aber zu kurz gegriffen. Das Apollinische des Lebens kann nicht ausgeklammert werden. Der Autor pendelt immer zwischen „wunderschöner Realität und grauen Tatsachen“, er schwankt zwischen „Verzauberung und Entzauberung“. Die Lust findet immer vor dem Hintergrund der Vergänglichkeit statt. Deshalb driftet Pleschinski auch nie in Kitsch oder Verklärung ab. Er beleuchtet stattdessen das Tragik-Komische im Menschen. Denn die Welt sei eben immer schön und hässlich zugleich.

 

Dr. Nastasja S. Dresler / © Marlena Simmet, Literaturportal Bayern

 

Der letzte Vortrag der Tagung, vom Historiker Prof. Dr. Wolfgang Burgdorf, rückt Pleschinskis immenses historisches Wissen und dessen einem Geschichtswissenschaftler gleichsamen Arbeitsweise nochmals in den Vordergrund. Er hält die Rede mit dem Titel: Hans Pleschinski, der Historiker.

Pleschinski sei nicht nur ein Kenner der französischen Geschichte des Ancien Régime, sondern auch der deutschen und europäischen Geschichte des 17. und 18 Jahrhunderts. So übersetzte er z.B. den Briefwechsel der Madame de Pompadour, allerdings beruhend auf einer brillanten Fälschung von 1772, oder Das geheime Tagebuch des Herzogs von Croÿ. Pleschinskis Übersetzung der Korrespondenz von Friedrich des Großen mit Voltaire, findet sich sogar in den Literaturverzeichnissen fast aller neuhistorischen Fachdarstellungen.

Doch nicht nur seine Übersetzungen, sondern auch sein literarisches Werk sei „enorm geschichtsträchtig“. Pleschinskis Vorliebe für das Zeitalter des Barock manifestierte sich beispielsweise erstmals im Holzvulkan oder kann in Anmerkungen zur Zeit des barocken Sachsens in Ostsucht ausgemacht werden. Die historische Rhetorik des Autors zielt dabei immer auf Demysthifizierung ab, wie Burgdorf konstatiert. Er stellt dem Leser freundliche und interessante Figuren der deutschen und europäischen Geschichte vor und lässt diese an uns heran.

Sie können dabei oft für eine andere, leichtere Zeit, als die des deutschen Nationalsozialismus stehen. Dahinter verschwindet zwar nie das Bewusstsein für die Zeit des Hitler-Regimes, für Pleschinskis Schaffen sei es jedoch grundlegend, dass er sich nicht durch das Dritte Reich identifizieren lassen wolle. Aus diesem Grund stellt er lieber andere Vertreter deutscher Geschichte in den Fokus seiner Werke, um dem Leser damit weitere Möglichkeiten der Identifikation zu bieten. Burgdorf bezeichnet Pleschinski als „Schatzsucher und Entdecker“, der deutsche und europäische Geschichte „wachruft“, um der Jammer-Kultur der Deutschen etwas entgegenstellen zu können. Die Auseinandersetzung mit Geschichte hat für Pleschinski also „einen gegenwärtigen Alltagssinn“.

Pleschinski habe seine eigene, ganz persönliche Form der Erinnerungskultur und Geschichtspolitik und ergänzt so das Bewusstsein der Menschen für Geschichte, die sich zu häufig und oft einzig und allein an die allgegenwärtige Zeit der NS-Diktatur erinnern. Pleschinski schreibe mit einem sozialpädagogischen Anspruch. Burgdorf bezeichnet ihn gar als „Anwalt der kultivierten Zivilgesellschaft“, wenn es um die Menschen geht. Sowohl um Menschen der Vergangenheit, wie auch um die der Gegenwart.

 

Prof. Dr. Wolfgang Burgdorf / © Marlena Simmet, Literaturportal Bayern

 

Während der abschließenden Diskussionsrunde, wo die letzten drei Vorträge noch einmal besprochen werden, betritt Pleschinski in den letzten Minuten dann doch noch höchstpersönlich, fast unbemerkt, den Saal und nimmt, ganz im Sinne seiner feinen zurückhaltenden Art, in den hintersten Reihen Platz.

Danach, nach dieser langen, höchst wissenschaftlichen und erkenntnisreichen Tagung haben sich die Gäste erstmal eine Verschnaufpause verdient, bevor Pleschinski den Tag mit einer Lesung aus seinem Werk krönen wird. Die Besucher wandern jetzt entweder in den Garten der Monacensia und atmen sommerliche Abendluft oder sehen sich die nun aufgestellten Pinnwände mit Pleschinskis Lesungsplakaten aus all seinen Schaffensperioden oder die von der Monacensia bereitgestellte Vitrine mit allen Werkausgaben des Autors an.

 

     

 

Ausstellungsvitrine, Stellwände und Büchertisch / © Marlena Simmet, Literaturportal Bayern

 

Nach etwa einer Stunde verlagert sich die nun stark angewachsene Gesellschaft wieder zurück in das Forum Atelier. Ganz im Sinne des Festcharakters hat das Publikum nun zuweilen ein Glas Bier, Wein oder Sekt in der Hand und blickt in Erwartung auf den festlichen Abendausklang auf die Bühne. Nachdem die Organisatoren Dr. Laura Schütz und Dr. Kay Wolfinger nochmal alle im Saal Anwesenden willkommen heißen, ertönt dann auch schon der erste Saxophonton von Hugo Siegmeth, der die Lesung zwischendurch immer wieder musikalisch auflockern wird.

Pleschinski begrüßt ebenfalls sein Publikum, bedankt sich für die Tagung, und lädt uns nun zu einem „kleinen Sparziergang durch sein Werk“ ein. Er liest zunächst einen Ausschnitt aus seinem frühen Werk und „ersten Hit“ Gabi Lenz, den er schon seit Jahren nicht mehr öffentlich vorgetragen habe. Aus gegebenem Anlass könne man dies aber durchaus heute einmal wieder tun. Die Komik der Passage lässt das Publikum schmunzeln, mitunter auch herzhaft lachen. Es folgt ein sehr kurzer Abschnitt aus Ludwigshöhe, in dem die Tristesse Münchens beschrieben wird. Vor der nächsten Lesesequenz weist Pleschinski darauf hin, dass es sich im Folgenden um ein Teilstück seines Werkes handeln wird, das ihm auch ganz persönlich sehr am Herzen liegt. Es handelt sich um die Szene aus Brabant, kurz bevor die Schiffsreisenden vor der Küste Amerikas eintreffen und der Schuss auf das Pentagon abgefeuert wird.

Zum Abschluss liest Pleschinski dann noch aus seinem zuletzt, im Februar 2018, erschienen Roman Wiesenstein, in dem die letzten Lebensjahre Gerhart Hauptmanns beleuchtet und somit ein Stück Kulturgeschichte aufgefangen wurde. Pleschinski liest die Szene des letzten am Wiesenstein stattfindenden schlesischen Festes. Mit einem Song von Charles Mingus, der Siegmeth als passend zum Tagesmotto Eleganz und Eigensinn erscheint und bei dem das Publikum zum mitschnipsen aufgefordert wird, schließt der Musiker den Abend. Im Anschluss wird selbstverständlich noch weiter gefeiert, es lebe schließlich die Festlichkeit!

 

 

Hans Pleschinski und Hugo Siegmeth am Saxophon /  © Marlena Simmet, Literaturportal Bayern

 

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