Zur Literaturnobelpreisvergabe an Kazuo Ishiguro

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Kazuo Ishiguro © Jeff Cottenden

Der diesjährige Literaturnobelpreisträger heißt Kazuo Ishiguro. Am 7. Dezember 2017 hielt er seine Preisrede, in der er vor allem ein düsteres Bild der Welt zeichnete und zugleich dafür warb, dass die Literatur in Zeiten gefährlich zunehmender Spaltung eine Gegenperspektive eröffnen könne. Letzten Sonntag wurde Ishiguro schließlich offiziell der Literaturnobelpreis übergeben. Ein Gastbeitrag von Friedrich Ulf Röhrer-Ertl über den neu zu entdeckenden britischen Autor mit japanischen Wurzeln.

 

I.

Der Literaturnobelpreis 2017 geht an den englischen Schriftsteller Kazuo Ishiguro. Als diese Nachricht am fünften Oktober 2017 verkündet wurde, schienen so manche vor den Kopf gestoßen zu sein. Ishiguro stand auf keiner der Listen, die im Vorfeld durch die Medien kursierten. Wie so oft in solchen Fällen schien eine gewisse Ratlosigkeit zu herrschen, wenn die Buchmacher sich irren – darf das denn sein? Wo doch Geld daran hängt! Ratlosigkeit herrschte in den allerersten Meldungen auch, wie man Kazuo Ishiguro denn bezeichnen sollte: als britischen, englischen, japanischen, internationalen Autor? Mit einem Nobelpreis lässt sich gut Staat machen, vielleicht nicht soviel wie mit einer Weltmeisterschaft oder einer Goldmedaille, aber immerhin.

Denke ich an Ishiguro, kommen mir zuerst nicht England oder Japan in den Sinn, sondern ein unauffälliges Ziegelgebäude nahe der Münchener Altstadt. Ein Schulzentrum wie viele andere in der Stadt und doch etwas Besonderes. Denn an nahezu jedem Samstag von April bis März – ganz nach dem japanischen Curriculum – werden hier halbjapanische Kinder unterrichtet, auch meine Tochter ist darunter. Vier Stunden japanische Sprache, japanische Schrift (zwei Silbenalphabete und 2136 Schriftzeichen!), aber auch japanische Kultur. Dreizehn Jahre Zusatzunterricht von der Vorschule bis zum Abitur.

Die Kinder selbst, zumindest die Jüngeren, gehen mit einer gewissen Mischung aus Fatalismus, Entnervung über den Unterricht und Freude darüber, dort wenigstens mit Freunden leiden zu können, hin. Spannender ist es, die Eltern zu beobachten, egal, ob es sich um den japanischen oder den nichtjapanischen Teil handelt. Sicher gibt es viele Motivationen, wie Eltern sind, aber sie alle strahlen eine Art von Hoffnung aus, die mit dem Aufwachsen in mehreren Kulturen einhergeht: die Hoffnung, dass die andere Kultur nicht vergessen, sondern dass sie gehegt und gepflegt und das künftige Leben bereichern wird.

Ishiguro, der mit fünf Jahren mit seiner Familie nach Guildford in Surrey zog (was ihn tatsächlich zu einem realen Mitbürger Ford Prefects macht), befand sich in einer vergleichbaren Situation. Zuhause sprach man nach seinen Aussagen Japanisch und versuchte, ein japanisches Leben zu führen, während er ansonsten völlig in seine englische Umgebung integriert war. Hört man sich Interviews mit Ishiguro an, ohne sich sein Bild vor Augen zu halten, es käme einem nur schwer in den Sinn, dass er nicht in England geboren sein könnte.

Nicht zuletzt wurde und wird das in Japan selbst registriert. Besonders augenscheinlich wird das bereits in der Schreibweise seines Namens. In der japanischen Wikipedia etwa wird Ishiguro, der seit 1982 britischer Staatsbürger ist, nicht mehr mit den normalen sino-japanischen Schriftzeichen (Kanji) 石黒 一雄 geschrieben, sondern als カズオ・イシグロ– in jener Silbenschrift (Katakana), die seit dem späten 19. Jahrhundert für die Wiedergabe ausländischer Namen verwendet wird.

 

Kazuo Ishiguro bei der Verleihung des Nobelpreises 2017 in Stockholm © Nobel Media AB 2017 / Alexander Mahmoud

 

II.

Kazuo Ishiguro hat in 35 Jahren aktiver Schriftstellerei nur ein schmales Œuvre veröffentlicht – sieben Romane und einen Band mit Kurzgeschichten. Natürlich könnte man sich seinem Werk über die üblichen Verdächtigen nähern, also über die Romane The Remains of the Day (1989; dt. Was vom Tage übrigblieb, 1990) und Never Let Me Go (dt. Alles, was wir geben mussten, 2005). Aber das Augenmerk auf andere Werke zu legen, scheint lohnender.

Denn Ishiguros Prosa lebt insbesondere von Andeutungen, vom Unausgesprochenen und in der Konsequenz von der Phantasie seiner Leser, so dass die erfolgreichen Verfilmungen beider Romane hier besonders hinderlich sind. Lassen wir sie fürs Erste beiseite.

Stattdessen möchte ich zwei andere Romane Ishiguros dem neuen Leser empfehlen, nach Möglichkeit natürlich im englischen Original. Da ist zum einen sein zweiter veröffentlichter Roman, An Artist of the Floating World (1986; dt. Der Maler der fließenden Welt, 1988). In gewisser Hinsicht ist dies der erste „echte“ Ishiguro, entstand doch sein erster Roman A Pale View of Hills (1982; dt. Damals in Nagasaki, 1984) noch als Abschlussarbeit an der Universität, trägt also noch deutlich äußere Einflüsse in sich. Es ist außerdem sein „japanischster“ Roman.

An Artist of the Floating World spielt mit Zeitsprüngen von 1948 bis 1950 in einer nicht näher charakterisierten japanischen Stadt. Ono, Hauptperson und Erzähler, begegnet uns zunächst als im Ruhestand befindlicher Maler, Witwer, Vater und Großvater, dem vor allem an einer standesgemäßen arrangierten Ehe für seine jüngere Tochter gelegen ist. Erst nach und nach erschließt sich dem Leser, dass Ono kein harmloser, wenn auch steifer, alter Mann ist; vor der Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg arbeitete er als erfolgreicher Propagandakünstler und Polizeiinformant; Tätigkeiten für die er nun nach dem Krieg ausgegrenzt und gemieden wird.

Als historischer Roman ist An Artist of the Floating World nicht tauglich. Das Bild von Japan und der japanischen Gesellschaft, das Ishiguro zeichnet, lässt sich mit den Realitäten Vor- und Nachkriegsjapans nur schwer in Einklang finden, nicht zuletzt weil in Japan wie in Deutschland die Karrieren der meisten Täter – auch ideologischer Täter – nach dem Krieg weiterlaufen konnten, ohne dass es zu Konfrontationen oder Ausgrenzungen, wie im Roman geschildert, kam. Dem Autor selbst scheint dieses Problem bewusst gewesen zu sein, entsprechend überspitzt er seine Darstellung Japans konsequent und gibt ihr so eine eigene, unwirkliche Qualität.

Meisterhaft gestaltet ist dagegen die Erzählung Onos, also der Widerspruch zwischen seinem Narrativ und dem Bild, dass sich der Leser daraus ableiten kann. Im Verlauf der Lektüre wird Onos Eigenbild mehr und mehr zum Zerrbild, hinter dem ein Mann hervortritt, der vorgibt, nur Mitläufer gewesen zu sein, und der sich damit doch nur selbst (und den Leser) belügt. Die Kritik Ishiguros am nationalistischen Vorkriegsjapan hat dabei bei aller Subtilität eine Deutlichkeit, wie sie sich in Japan selbst nur selten findet. In Übersetzung eigentlich nur in den Grotesken Nosaka Akiyukis (1930-2015), wie Amerika hijiki (1967; dt. Algen aus Amerika, 1990).

Der hinzukommende Konflikt zwischen Ono und seinen Töchtern steht in einer spezifisch japanischen Romantradition. So hat etwa der große Tanizaki Yunichiro (1886-1965) mit Sasameyuki (1943-48; dt. Die Schwestern Makioka, 1964) ebenfalls den Konflikt zwischen Eltern und Kindern, was das (Ehe-) Glück letzterer betrifft, thematisiert. Was Ishiguro von diesen allerdings unterscheidet ist ein Fehlen jeglicher Sentimentalität, und das tut gut.

 

 

 

III.

Steht An Artist of the Floating World am Anfang der Karriere Ishiguros, so steht sein bisher neuestes Werk The Buried Giant (2015; dt. Der begrabene Riese, 2015) am vorläufigen Ende seiner Entwicklung. An die Stelle der in seinen vorigen Romanen durchgehend verwendeten Ich-Erzählung tritt uns hier ein allwissender Erzähler als Märchenonkel entgegen. Hinter seiner freundlichen, scheinbar kindgerechten Fassade verbirgt sich aber ein moderner Berichterstatter, der genauso eine eigene Agenda verfolgt wie bereits der Ich-Erzähler Ono in An Artist of the Floating World.

Inhaltlich vollzieht Ishiguro mehr als je zuvor die Wendung hin zum phantastischen, allegorischen Roman. Die Handlung spielt in einem mythischen Britannien. In seinem Zentrum stehen keine strahlende Helden, sondern ein älteres Paar, Axl und Beatrice. Ihnen fällt auf, dass alle Menschen in ihrer Umgebung, Schwierigkeiten haben, sich zu erinnern. Auch sie selbst sind betroffen, selbst an ihren Sohn, der in einem anderen Dorf leben soll, können sie sich nur mit Mühe erinnern. Als sie beschließen, ihren Sohn zu besuchen und ihr Dorf zu verlassen, geraten sie in ein Abenteuer, in dessen Verlauf die Frage steht, inwieweit es gut ist zu vergessen.

The Buried Giant ist ohne die im englischsprachigen Raum verwurzelte Tradition der Sagen- und Märchenromane von Autoren wie William Morris (1834-1896), Howard Pyle (1853-1911) oder Lord Dunsany (1878-1957) nicht denkbar. In Deutschland wird man vor allem an die späteren Autoren J. R. R. Tolkien (1892-1973) und C. S. Lewis (1898-1963), die am Übergang vom Märchenroman zur modernen Fantasy stehen, erinnert. Ishiguro bedient sich des Themenspektrums dieser Tradition, konterkariert sie aber konsequent. Man erinnere sich nur an den berühmten Einleitungssatz von Tolkiens The Hobbit (1937; dt. Der kleine Hobbit, 1957):

In einem Bau unter der Erde da lebte ein Hobbit. Kein ekliger, dreckiger, feuchter Bau, voll von Würmerenden und einem schleimigen Geruch, noch ein trockener, nackter, sandiger Bau mit nichts darin, worauf man sitzen oder was man essen könnte: es war ein Hobbitbau, und das bedeutet Bequemlichkeit.

Auch Axl und Beatrice leben anfangs in so einem Bau, gemeinsam mit dem Rest des Dorfes, aber die Beschreibung bei Ishiguro liest sich nun eben nicht nach „Bequemlichkeit“, sondern nach Dunkelheit, Kälte und sozialer Ungerechtigkeit. Und selbst wenn mit Gawain ein Ritter des im Roman bereits untergegangenen Artushofes auftritt, die ritterlichen Ideale werden von Ishiguro wahrlich nicht besungen.

Mit seinem Roman reiht sich Ishiguro damit einerseits in die später so genannte „New Wave“ der englischsprachigen Fantasy ein, wie sie beispielsweise Mervyn Peake (1911-1968), bereits erwähnter Michael Moorcock (geb. 1939) oder Ursula K. Le Guin (geb. 1929) vertreten. Die von ihm darin behandelten Themen von Schuld, Hass und Vergessen, aber auch seine Sprache heben ihn andererseits gleichzeitig von den meisten der genannten Autoren ab, lediglich Mervyn Peakes Romane Titus Groan (1946; dt. Der junge Titus, 1982) und Ghormenghast (1950; dt. Im Schloß, 1982), Teile seines unvollendeten Zyklus' um Titus Groan, weisen eine ähnliche literarische Qualität auf.

Ishiguro selbst hat dabei mehrmals abgelehnt, seinen Roman als Fantasy zu begreifen, was ihm u.a. Kritik von Le Guin eingebracht hat. Man muss seine Aussagen allerdings eher als Abgrenzung vom Gros der aktuellen Fantasy sehen denn als generelle Ablehnung der Phantastik selbst. Eine ganz ähnliche Einstellung vertritt auch Margaret Atwood, die dieses Jahr selbst als Kandidatin für den Literaturnobelpreis gehandelt worden ist, die jedoch für ihre Werke die Zuordnung zur Science Fiction ablehnt (wofür sie ebenfalls von Le Guin kritisiert wurde).

Freilich gilt gerade für Ishiguro, dass ihm Themen wichtiger sind als die Form. Im Falle von The Buried Giant hat er in Interviews berichtet, dass die Geschichte von den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien inspiriert wurde. Die phantastische Umformung erhielt der Stoff erst später.

 

 

IV.

Es bleibt die Frage, ob es eine „richtige“ Entscheidung des Nobelpreiskomitees war, Ishiguro den Preis zuzuerkennen. Schaut man sich ein wenig im Internet um, diesem unendlichen Mahlstrom menschlicher Ergüsse, so findet man leicht die Vorwürfe der Enttäuschten. Und selbst in manchen Medien scheint man erstaunt und irritiert zu sein.

Dabei darf man aber nicht übersehen, dass die Vergabe des Nobelpreises für Literatur zwar auch immer eine politische Komponente hat, zuallererst ist er aber die freie Entscheidung von derzeit nur sieben Personen. Im Anbetracht dessen, dass die Vorschlagslisten jedes Jahr umfangreich genug sind, um die weltweite Literaturszene mit erfolgreichen Schriftstellern weitgehend abzudecken, dürfte der Faktor Mensch schwerer wiegen, als es manche Kritiker wahrhaben wollen.

Tatsächlich könnte man als einziges Argument gegen Ishiguro das Testament Alfred Nobels selbst anführen, nach dem der Literaturpreis demjenigen zufallen soll, „der auf dem Gebiete der Literatur das herausragendste Werk in der idealistischen Richtung geschaffen hat“. Abgesehen davon, dass dies in den aktuellen Statuten relativiert wird: idealistisch sind Ishiguros Bücher in ihrer Gesamtheit nicht, sie durchziehen Melancholie, verdeckte Abgründe und zerbrochene oder zerbrechende Menschen.

Daneben gibt es aber auch Ishiguro als Person: den engagierten ehemaligen Sozialarbeiter. Den vor allem musik- und filmbegeisterten Autor. Den Sohn japanischer Immigranten, der in der Kultur Englands angekommen und aufgegangen ist und sie gleichzeitig mit seiner durchaus japanischen Subtilität bereichert. Nicht zuletzt auch den Weltenbürger, der sich gegen den Brexit ausgesprochen hat. Mit allen diesen Facetten bildet Kazuo Ishiguro selbst das Ideal eines Intellektuellen und das in einer Zeit, in der Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus und andere dumpfe Gedanken mehr und mehr en vogue erscheinen.

Es ist wahrscheinlich, dass alles dies eine Rolle bei der Preisvergabe gespielt hat. Aber man geht auch nicht fehl, anzunehmen, dass das Komitee auch die literarische und sprachliche Qualität gesehen hat. Alles in allem also keine schlechte Wahl. Mehr noch, eine leise und damit kluge. Es gibt schon genug Lärm in der Welt.