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28.01.2016, 10:01 Uhr
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© Gerald von Foris

Interview mit Lena Gorelik über ihren Roman „Null bis unendlich“ – Teil II

In ihrem neuen Roman Null bis unendlich (Rowohlt, 2015) erzählt Lena Gorelik von drei außergewöhnlichen Menschen, von Freundschaft, Liebe und Abschied. Wir trafen die Autorin in München und haben ihr ein paar Fragen zu Zahlen, Beziehungen und gesellschaftlichen Konventionen gestellt. Hier geht es zum ersten Teil des Gesprächs...

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Null bis unendlich

Fünfzehn Jahre lang hat Nils nichts von Sanela gehört. Damals waren beide vierzehn, Nils multiplizierte vierstellige Zahlen im Kopf, Sanela kam aus Jugoslawien und hatte im Krieg ihre Eltern verloren. Zwischen den beiden Außenseitern begann eine enge Freundschaft, vielleicht wäre es sogar mehr geworden. Aber nachdem sie zusammen ausgerissen waren und versucht hatten, in Bosnien das Grab von Sanelas Vater zu finden, eine so vergebliche wie gefährliche Reise, kam das abrupte Ende zwischen Nils und dem wilden Mädchen, das immer aus allem ausbrechen wollte. Nun erhält Nils plötzlich einen Brief von Sanela, einen Brief wie früher, scheinbar zufällig. Und weiß beim ersten Treffen, wie sehr sie ihm all die Jahre gefehlt hat. Sanela hat einen kleinen Sohn, der Niels-Tito heißt, der wie Nils  die Zahlen liebt und sich sofort mit diesem versteht wie mit keinem sonst. Zu dritt holen sie die Reise nach und werden bald zu so etwas wie einer Familie. Aber Sanela macht es Nils immer noch nicht leicht. Ihr Brief war kein Zufall, denn sie ist sehr krank ...

Literaturportal Bayern: Steckt auch etwas Autobiographisches in Null bis unendlich?

Lena Gorelik: Steckt nicht in jedem Buch etwas Autobiographisches?

Es gibt nichts Konkretes, in dem Sinne, dass ich sagen könnte, die und die Tatsache stammt aus meinem Leben, zum Beispiel, dass ich auch ein autistisches Kind hätte. Gleichzeitig enthält dieses Buch nicht eine Sache, die nicht autobiographisch ist. Da ist nichts drin, was mich nicht sehr stark beschäftigt.

Ich habe mir etwa immer gewünscht, hochbegabt zu sein. Ich weiß auch, dass das hart ist, aber trotzdem fand ich die Vorstellung toll, dass man so smart ist, dass man aus Gedankenprozessen schöpfen kann, aus denen andere nicht schöpfen können. Ich finde Hochbegabung faszinierend, ich finde Autismus faszinierend. Ich bin mir sogar sicher, dass ich autistische Züge habe.

LPB: In Null bis unendlich geht es zum Teil auch um Flucht. Sanela ist ein Flüchtlingskind. Flüchtlinge sind im Moment ein sehr aktuelles und brisantes Thema. War das schon so, als Du an dem Buch geschrieben hast?

LG: Nein, überhaupt nicht. Es tut mir fast leid, dass das jetzt so gut passt, weil ich das sicher nicht geschrieben hätte, wenn ich gewusst hätte, was für eine „Flüchtlingskrise“ bevorsteht. Denn ich finde die Bearbeitung von Sanelas Flüchtlingshintergrund einen platten Weg, um mit dem Thema umzugehen.

Dass wir jetzt meinen, von der Masse von Flüchtlingen überrascht worden zu sein, ist einem Wegschauen unsererseits geschuldet. Hätte man hingesehen, hätte man wissen können, was passieren wird.

Die Zahlen steigen jeden Tag und wir gehen immer noch jeden Tag in den Supermarkt und leben unseren Alltag, und währenddessen kommen 300.000 Geflüchtete in München an.

LPB: Das heißt, wenn man die Flüchtlinge nicht sehen will, dann sieht man sie auch nicht?

LG: Ja, genau. Man kann ganz gut so tun, als gäbe es diese Problematik im Alltag gar nicht. Ich habe auch darüber nachgedacht, wie man die Dinge eigentlich hinnimmt: Zum Beispiel hört man, dass in Freital dreißig Leute auf drei Syrer losgegangen sind und an anderen Orten zwanzig auf zwei Flüchtlinge, und diese Nachrichten fallen in der Tagesschau zwischen Fußball und Wetter, und ich koche hier Tee und überlege mir, ob ich jetzt lieber Darjeeling oder Kräutertee trinken werde. Es ist schon unglaublich, wie gut wir in unseren Verdrängungsmechanismen sind – auch ich.

Flucht ist ein Thema, das mich schon immer beschäftigt hat, auch aus meiner eigenen Geschichte heraus – ohne meine Flucht mit der der Flüchtlinge heute vergleichen zu wollen. Meine Flucht ist nichts im Vergleich zu dem, was die Menschen, die heute hier angekommen, durchgemacht haben.

Ich überlege zwar die ganze Zeit, was ich schreiben kann und auch muss, und ich denke darüber nach, welche Verantwortung ich habe angesichts dessen, was hier passiert. Aber ich würde diesen Roman jetzt nicht mehr auf diese Weise schreiben. Ich könnte jetzt keine Geschichte mehr über ein Flüchtlingskind schreiben, es sei denn, es ist ein reales Flüchtlingskind.

LPB: Dass man heute anders darüber schreiben würde und auch anders darüber schreibt, ist nicht überraschend, wenn man schon allein bedenkt, dass es zur Zeit der Jugoslawienkriege ganz andere Fluchten waren, die die Menschen erlebt haben.

LG: Dabei bin ich schon erstaunt, wie viele Parallelen es gibt. 1992, als ich nach Deutschland kam, war ich zwölf Jahre alt, und ich erinnere mich an wenig. Aber ich erinnere mich an Bilder, die genauso aussehen wie die Bilder, die man jetzt im Fernsehen sieht. Ich erinnere mich an diese Bahnhofsszenen und  an Zelte und natürlich an die öffentliche Diskussion. Die Diskussion war damals dieselbe: Können wir das schaffen? Wer kommt da an? Warum sind die so anders? Auch gerade bei Bosniern wurde das Muslim-Thema schon damals diskutiert.

Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich über einen Krieg schreiben darf, den ich nie gesehen habe, und beim Schreiben habe ich auch festgestellt, dass es mir sehr schwer fiel. Die schwersten Kapitel waren die, die in Bosnien spielen. Deswegen gibt es auch diese lange Zugfahrt. Das ist das längste Kapitel, weil ich so lange gebraucht habe, um dort anzukommen.

Die Situation, aus der man losgeht, mag unterschiedlich sein, aber das Ankommen ist immer gleich: Was Sanela fühlt, ist, glaube ich, das, was ich gefühlt habe, und auch das, was die Menschen am Bahnhof in München fühlen.

LPB: Zum Schluss noch eine eher formale Frage: Schaut man sich die Kapitel an, fallen drei Aspekte besonders ins Auge. Die Kapiteltitel sind eine bunte Mischung aus Zahlen, Namen, Orten, Gefühlen. Gleichzeitig sind die einzelnen Kapitel von ganz unterschiedlicher Länge, und das erste nimmt im Grunde bereits den Schluss der Geschichte vorweg. Was steckt hinter dem „Spiel“ mit den Kapiteln?

LG: Ich habe die Kapitel – ähnlich wie auch den Romantitel – den dreien angepasst. Mit Ein Versuch an der Liebe wären Nils Liebe und Sanela zum Beispiel nicht einverstanden gewesen. Mit Null bis unendlich können alle sehr gut leben. Das passt zu ihnen. Und genauso war es mit den Kapiteln. Meine ursprüngliche Idee war: Ich nummeriere alle Kapitel durch und spiele mit den Zahlen. Das gibt es ja auch immer noch im Buch, zum Beispiel beim Kapitel Vierzehn. Es ist zwar nicht das 14. Kapitel, aber es kommt die Zahl 14 darin vor. Immer wenn Zahlen im Kapitel vorkamen, habe ich diese genommen, weil es den beiden oder den dreien gefallen hätte. Ging das nicht, habe ich versucht, es so knapp zu machen, wie es den dreien entspricht. Was hätte Sanela mit mir gemacht, wenn ich das Kapitel Man II, in dem man vom Tod ihres Vaters erfährt, mit Der Tod des Vaters bezeichnet hätte – oder mit Das Blut, das floss …? Bei Man II hätte sie gesagt: „Lena, gut gemacht!“

Gleiches gilt für den Umfang der Kapitel: Die beiden Hauptfiguren können tagelang reden und tagelang schweigen und richten sich dabei nicht nach den üblichen Konventionen. Da, wo es am Ende „krass“ wird,  ist alles ganz schnell gesagt. Wenn Sanela einmal zuschlägt, muss ich nicht noch vier Seiten darüber schreiben, wie es Nils geht. Das wäre den beiden unangemessen.

LPB: Die Titel und der Umfang der Kapitel entsprechen als immer der emotionalen Sequenz, von der erzählt wird. Sie entsprechen den dreien. Gilt das auch für die Vorwegnahme des Endes?

LG: Ich habe diesen Dialog im ersten Kapitel irgendwann mitten im Arbeitsprozess geschrieben. Ich schreibe nicht chronologisch: Ich schreibe mal da und mal da und überlege mir die Reihenfolge erst am Schluss. Ich habe immer ganz viele Post-its mit den Textelementen – am Ende fange ich dann an, die Zettel zu ordnen. Das ist ein tagelanger Prozess, manchmal geht er über Wochen. Der Dialog stand zunächst auch dort, wo er in der Chronologie der Geschichte hingehört. Irgendwann habe ich ihn nochmal durchgelesen und dachte, eigentlich könnte man auch nur den Dialog stehenlassen und den Rest des Buches wegschmeißen. Für mich gibt es den Dialog – und den Rest des Buches, der den Dialog ausführt. In dem Moment wusste ich, er kann nicht irgendwo dazwischen stehen und verschwinden, und dann gibt es ja nur zwei Möglichkeiten: am Anfang oder am Ende.

Hätte ich ihn an den Schluss gestellt, hätten Nils Liebe und Sanela natürlich gesagt: „Was machst du hier auf Romantik und Spannung? Bist du bescheuert?“ Eigentlich haben die beiden sehr viel mitentschieden.

LPB: Es ist sicher keine konventionelle Form von Romantik, die man zwischen den beiden findet. Sie sind eigentlich ein durch und durch unromantisches Paar. Aber gerade dadurch hat ihre Beziehung doch etwas sehr Romantisches, weil sie etwas ganz eigenes haben.

LG: Total romantisch! Das darf man den beiden nur nicht sagen, die werden sonst gleich wütend. Selbstverständlich würden sie sich niemals vor einen Sonnenuntergang setzen, und niemals würde Nils Liebe Sanela Blumen mitbringen, aber auf ihre eigene Art sind die beiden sehr romantisch. Das beginnt schon damit, dass Sanela ihr Kind Niels-Tito nennt, nach ihrer Jugendliebe. Nur hängt sie eben noch ein Tito dran, denn dann schwächt das die Romantik wieder, und sie fühlt sich sicherer und durch die Wahl des zweiten Namens außergewöhnlich.

Es gibt einen Abend am Schluss, an dem sie es schön haben, Musik hören, zusammen sind, aber dafür brauchen die beiden das Wissen, dass Sanela stirbt, sonst würden sie so einen schönen Abend nicht miteinander aushalten. Eigentlich sind die beiden total verlogen, weil sie nicht einfach nur sagen können, „Hey, ich liebe dich und lass uns doch einfach bei diesem Gefühl bleiben“, stattdessen denken sie, das ist lächerlich und wir erheben uns darüber. Wenn man aber der Erzähler ist und die beiden kennt, dann ist das ein bisschen so, wie wenn man ein pubertierendes Kind sieht und denkt, ja, du hast es gerade nötig, dann tu das, es wird vorbeigehen.

LPB: Die letzte Frage: Was war von diesem Buch zuerst da?

LG: Nils Liebe. Nur der Name.

Ich habe eigentlich an einem anderen Roman geschrieben, den ich nie zu Ende schreiben werde, und ich hatte davon schon ziemlich viel, etwa 120 Seiten. Der Verlag wusste bereits davon, mein Agent wusste davon, also war es nicht nur ein Projekt „im Kopf“. Aber dann wachte ich eines Tages auf und mir fiel Nils Liebe ein bzw. der erste Satz über Nils Liebe.

Nils Liebe schrieb sich ohne ‚e‘ und gab seinen Vornamen auch so an: ‚Nils ohne ‚e‘ und Liebe wie Liebe. Nils Liebe.‘

Das ist kein grandioser, literaturverändernder Satz, aber ich hatte das Gefühl, jetzt darüber schreiben zu müssen. Ich war selbst ganz erstaunt darüber. So entstand das gesamte Buch eigentlich aus dem Namen und für mich heißt das Buch auch immer noch Nils Liebe.

Wenn ich eine Lesung habe, dann sage ich, „Ich lese heute aus Nils Liebe“ und nicht aus Null bis unendlich.