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Plakat zur Ausstellung "Evas Töchter. Münchner Schriftstellerinnen und die moderne Frauenbewegung 1894-1933" (2018)

München, Von-der-Tann-Straße 2

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Von-der-Tann-Straße 2, Rechtsschutzstelle seit 1898, FS-HB-V-a-1223 (c) Stadtarchiv München

Am 1. Mai 1898 eröffnet der Verein für Fraueninteressen in der Von-der-Tann-Straße 2 seine Rechtsschutzstelle für Frauen, die schnell eine bekannte und gesuchte Einrichtung wird. Unter der Leitung von Sophia Goudstikker werden die Sprechstunden (mittwochs und samstags Abend) in der dortigen Frauenarbeitsschule abgehalten. Auch die Schriftstellerin Emma Merk ist hier von 1901-1913 Mitarbeiterin.

Die Auskunftsstelle über Wohlfahrtseinrichtungen nimmt im Juni 1900 in der Frauenarbeitsschule ihre Tätigkeit auf. Hier veranstaltet der Verein im Winter 1904/1905 auch „Rechtskurse für Frauen alle Stände“, abgehalten werden sie von der Juristin Dr. Frieda Duensing.

Die 1865 in den Niederlanden geborene, in Deutschland aufgewachsene Sophia Goudstikker ist zu ihrer Zeit eine der führenden Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung im kaiserlichen Deutschland. Bevor sie mit ihrer Partnerin Anita Augspurg 1886 nach München zieht, besucht sie in Dresden für ein Jahr eine private Malschule. Anschließend lässt sie sich in der bayerischen Residenzstadt im Winter 1886/87 in einem Atelier zur Fotografin ausbilden.

Mit ihrer lesbischen Partnerschaft, mit kurzen Haaren und regelrecht skandalträchtigen Ausflügen im Englischen Garten auf dem Fahrrad oder im Herrensattel zu Pferde erregen Sophia Goudstikker und Anita Augspurg großes Aufsehen. Gewandt nutzen die beiden Frauen diese Aufmerksamkeit als Publicity für ihr 1887 gegründetes Fotoatelier Elvira. Der Erfolg stellt sich fast unmittelbar ein, sogar die Mitglieder des Königshauses und Schwabinger Künstler zählen zu ihren Kunden, und etwas mehr als ein Jahrzehnt später können sie den von August Endell 1898 entworfenen Neubau ihres Ateliers im Jugendstil in der Von-der-Tann-Straße 15 eröffnen. Sophia Goudstikker erhält im selben Jahr den Titel einer königlich bayerischen Hoffotografin und ist somit gesellschaftlich arriviert. Als Geschäftsfrau führt sie nicht nur ihr Studio sehr erfolgreich, sondern verwaltet auch ihr ererbtes Vermögen selbst und ist ökonomisch unabhängig. Ihre berufliche wie private Partnerschaft mit Anita Augspurg hält bis ins Jahr 1898 an, anschließend wird Ika Freudenberg ihre Lebenspartnerin.

Als Mitbegründerin der Gesellschaft für geistige Interessen der Frau 1894 und des Vereins für Fraueninteressen tritt Goudstikker schon früh als Feministin in Erscheinung. 1899 gehört sie zu den Hauptorganisatorinnen des Ersten Allgemeinen Bayerischen Frauentags. Sie ist es auch, die beim Höhepunkt des Kongresses, dem Schauspiel von Marie Haushofer, Regie führt und anschließend die einzelnen Szenen des Stücks in ihrem Atelier fotografisch festhält; es entsteht ein Fotoalbum mit eindrücklichen, ästhetischen Aufnahmen. Das Album verehrt sie der Familie Haushofer, zu der sie auch zeitlebens in engem, freundschaftlichem Kontakt steht. Heinz Haushofer wird es später dem Stadtarchiv München als Schenkung übergeben.

Der Schwerpunkt ihrer politischen Arbeit ist für Sophia Goudstikker – abgesehen von ihrer Tätigkeit im Vorstand des Vereins für Fraueninteressen – zeitlebens die Rechtsberatung; die Rechtsschutzstelle, die 1898 innerhalb des Vereins von ihr selbst ins Leben gerufen wird, vertritt die Interessen von Frauen in allen Rechtsgebieten, auch direkt vor Gericht. Marie Munk, eine der ersten deutschen Juristinnen, unterstützt Goudstikker von 1912 bis 1914 in dieser für sie so zentralen Arbeit.

Die Frauenrechtlerin und Politikerin Gertrud Bäumer, eine weitere Weggefährtin, hat ihr großes Engagement für die juristisch oft schutzlosen Frauen folgendermaßen beschrieben:

Viele Stunden habe ich in der Rechtsschutzstelle des Vereins zugehört, wie Sophie Goudstikker ganz autodidaktisch, aber mit ebensoviel Talent für die Verteidigung wie für volkstümliche Behandlung an die Hunderte von Anliegen abwickelte. Sie war in dieser Eigenschaft eine populäre Figur in der Münchner Bevölkerung, gefürchtet von ‚Kindsvätern‘ […] und die Schutzgestalt von verlassenen Mädchen und gequälten Ehefrauen […] Sie war an den Münchner Gerichten zur Verteidigung zugelassen und hat ein paar ganz sensationelle Fälle durchgeführt […] Sie hatte eigentlich gar keine formaljuristische Begabung, aber eine fabelhafte Intuition für den ‚Rechtskampf‘ und die Behandlung des Gerichtshofs mit volkstümlichen Argumenten.

Bis zuletzt verfolgt Sophia Goudstikker ihre Ideale und arbeitet noch kurz vor ihrem Tod am 20. März 1924 in der von ihr stetig mit geführten Rechtsberatungsstelle.

 


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Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Ingvild Richardsen

Sekundärliteratur:

Richardsen, Ingvild (2018): Evas Töchter. Münchner Schriftstellerinnen von 1894-1933. Volk Verlag, München.

Verein für Fraueninteressen (1994): 100 Jahre Verein für Fraueninteressen. München, S. 37.