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Lilly

... findet, dass Menschen aussehen wie Tiere und fremde Männer wie alte Liebhaber.

Es schneit wieder und Lilly muss die Kapuze zurecht schieben. Der Webpelz, nass und schwer rutscht ihr, bei jedem Schritt, bis auf die Nase. Doch die Hildegardstraße sieht schön aus, so hell und ohne Farbe, der Schnee deckt alles zu.

Sie bleibt stehen, vor dem Café an der Ecke des Parkhauses und legt ihre Stirn an die Scheibe, ihr Platz am Ecktisch ist frei. Nur ein Mann sitzt da noch, sein Gesicht halb verborgen hinter der Zeitung. Sie erkennt seine Brauen, die sich beim aufmerksamen Lesen so über der Nasenwurzel heben, wie ein kleiner Giebel. Sie erkennt den Wirbel über dem linken Auge. Die Haare sind heller, als hätte es auch auf ihn geschneit, aber noch immer lockig und dicht.

Lilly geht weiter. Sie kennt das. Sie hat damals oft geglaubt ihn zu sehen, im Vorbeigehen und an den unmöglichsten Orten. Einmal, auf Macao, in einem nächtlichen Café, hat er sich über den Tisch gebeugt und die Hand einer dunkelhäutigen Frau geküsst. Einmal ist er in einem italienischen Reisebus an ihr vorbeigefahren. Das war im Frühsommer und die Luft hat nach blühenden Linden gerochen. Und einmal ist sie ihm nachgelaufen, durch die Straßen einer kleinen schwäbischen Stadt und hat ihn auf einem Volksfest zwischen Luftballons und Wurstbratereien aus den Augen verloren.

Natürlich weiß Lilly, dass das nie Tom war. Ihren Augen ist nicht immer zu trauen. Sie sieht auch manchmal ihre Großmutter auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen und ihr zuwinken. Oder ihre Schulfreundin Beate, ganz so wie früher, mit Pferdeschwanz und bestickter Bluse, die lachend an einem Eis leckt. Großmutter ist lange tot. Beate ist mit ihrer Familie nach Australien ausgewandert, noch während des Studiums, und das letzte Mal als sie Tom gesehen hat, trug er seinen orangefarbenen Anorak. Das ist Jahre her. Das war dieser Abend, in ihrer Küche, am Tisch, vor den abgegessenen Tellern. Sie hatte Gulasch gekocht und eine Flasche Rotwein aufgemacht. Seine Koffer standen im Gang, und als er aufstand, um zu gehen, war sie nicht aufgestanden, sondern hatte trotzig geschwiegen und mit den Tränen gekämpft.

„Ich rufe an, sobald ich da bin“, sagte er. „Ich maile Photos, damit du siehst, wo ich bin. Einverstanden?“ Und da hatte schon der Taxler geläutet. Lilly bleibt stehen und sieht zu wie der große Transporter dröhnend Körner in die Kellerluke der Mühle kippt. Es gefällt ihr, dass es eine Mühle gibt, hier mitten in der Stadt, und sie lächelt und geht und kauft Semmeln im kleinen Brotladen. Die Semmeln sind noch warm. Weiter, die Straße entlang, vorbei am Hotel Mandarin, wo eine Gruppe von ungeduldigen Menschen im fallenden Schnee auf das Auftauchen irgendeines Stars wartet.

„Wer ist es?“, fragt Lilly ein junges Mädchen, das eine rote Rose an die Brust gedrückt hält. Bewegung kommt in die Wartenden, alle drängen zum roten Teppich, auf dem kein Schnee liegt. Lilly kennt den ihr hastig zugeflüsterten Namen nicht.

Einmal ist sie mit Tom in der Bar des Hotels gewesen. Er plünderte hastig die kleinen Schälchen mit Nüssen, Kartoffelchips und Oliven, nahm große Schlucke aus seinem Glas und sprach dabei von seinem „Projekt“. Der Gin Tonic machte Lilly leicht und übermütig.

„Nimm mich mit“, sagte sie. „Ihr braucht doch einen Chronisten. Ich könnte alles zeichnen.“ Und Tom schaute sie verwirrt an und antwortete nicht.

Um die Ecke, vorbei am Hofbräuhaus, muss Lilly sich durch viele ihr entgegenkommende Touristen schlängeln. Sie sieht durchs Fenster, dass schon jetzt am Vormittag fast alle Bänke besetzt sind. Das Dröhnen der Blaskapelle lässt die Scheiben zittern. Lilly bleibt stehen und hört eine Weile der Marschmusik zu. Sie überlegt einen Augenblick, ob sie zurücklaufen sollte zum Café, um nachzusehen, ob es Tom ist, der dort sitzt, die Zeitung liest und einen Espresso nach dem anderen kippt, wie er das immer tut. Sie haben guten Kaffee dort, stark und dickflüssig, wie Sirup.

Lilly schiebt die Kapuze zurück und stapft durch die Schneewehen, über die Straße und weiter, vorbei an Andenkenläden, den Ständern mit Postkarten, die unter die Markisen gezogen sind, der Metzgerei, vor der Leute herumstehen und in dampfende Leberkässemmeln beißen.

In der Böhmler-Passage sitzt der kleine Mann mit dem Raubvogelgesicht, wie immer auf seiner Decke, den schwarzen Hut tief ins Gesicht gezogen und neben ihm sein ausgestopfter Fuchs und der Kassettenrecorder. „La Paloma“. Die ganze Passage hallt davon wider.

Tom hat „La Paloma“ geliebt. „So ein Kitsch“, sagte er verlegen, und laut und falsch gesungen: „... mein Kiiiind, sei nicht traurig, tut auch der Abschied weeeeeh ...“ dabei versuchte er, Hans Albers’ Stimme nachzumachen. „Als ich klein war, kam ein Mann mit einer Ziehharmonika in unseren Hof und spielte „La Paloma“, sagte Tom. „Er hat dabei immer die Augen so zugemacht, als sei er ganz ergriffen von dem Lied. Ich hab ihm dann ein paar Münzen in Papier gewickelt hinunterwerfen dürfen.“

Tom sang „La Paloma“. Lilly legte ihre Hand auf seine bebende Brust, küsste ihn, lachte über ihn, schüttelte ihn. „Hör auf!“

Sie gibt dem kleinen Mann mit dem Raubvogelgesicht einen Euro. Es ist nicht Hans Albers, der das Lied singt. Es ist eine Frauenstimme und sie singt in Spanisch, aber Lilly kennt den Text. Ob das ein Zeichen ist, das mit dem Lied, hier in der Böhmler-Passage, ausgerechnet heute, nachdem sie geglaubt hat, Tom zu sehen?

Der alte Mann lächelt ihr zu, zahnlos, und hält ihre Hand fest. Sie hat ihn schon oft gezeichnet, später, zu Hause, sein kühnes Profil, den Schnabel seiner Nase unter dem schwarzen Hut.

Seit Lilly an dem neuen Bilderbuch arbeitet und immerzu Tiere zeichnen muss, hatte sich die Welt um sie her verändert. Alle Figuren in dieser Geschichte sind Tiere, Tiere in Menschenkleidung: verführerische Katzen auf hohen Schuhen, tückische Hyänen in schwarzen Klamotten, Nashörner in Hugo Boss-Anzügen und Krawatten. Lilly findet mittlerweile, dass alle Menschen, die ihr begegnen, aussehen wie Tiere.

Im Supermarkt im Tal schneidet ihr ein magerer Hund die Wurst ab, und eine Nilpferddame in hellblauer Schürze klackt eilfertig Preisschilder auf Marmeladegläser.

Lilly zieht es nach Hause. Sie sehnt sich nach ihrem Zeichentisch, nach den Bataillonen von sauber gespitzten Farbstiften, im klaren Licht ihrer Bürolampe. Ich werde jetzt zeichnen und zeichnen, sagt sie sich. Ich muss mir das alles merken.

In der Hochbrückenstraße türmt sich der Schnee am Gehsteigrand und die Autos sehen aus wie Rohrnudeln unter erstarrter Vanillesauce.

Tom, was für ein Tier ist Tom? Sie bleibt stehen vor der Polizeiwache und sieht abwesend zu, wie drei junge Polizisten sich gegenseitig in den Schnee schubsen und versuchen, einander Schneebälle in den Kragen zu stecken.

Lilly geht nur zögernd weiter. Lange bleibt sie vor den wunderbar glitzernden Ohrringen stehen, die im schwarzen Guckfenster des Juweliers funkeln wie gefangene Sterne in einem Tuscheglas.

Und da ist das Café und da ist das Fenster. Lilly bleibt stehen. Sie wappnet sich. Tom ist kein Tier. Kein einziges Tier kommt ihr bei Tom in den Sinn. Der Platz, an dem er gesessen hat, ist leer und auch der Tisch, auf dem sie mit den Augen nach einer Espressotasse sucht, ist leer. Da stehen nur ein Salzstreuer und eine Vase mit einem Tannenzweig, an dem ein winziger Fliegenpilz klebt.


Den ganzen Spaziergang auf der Karte verfolgen ...

Verfasst von: © Keto von Waberer, 2011

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