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Abb. 1: Waldfriedhof München, Haupteingang, Fürstenrieder Straße 288. Foto: Dirk Heißerer

Hans Grässel

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Abb. 2: Waldfriedhof München. Exedra mit dem Grab Hans Grässels. Foto: Dirk Heißerer

Am östlichen Haupteingang zum Waldfriedhof (1907) an der Fürstenrieder Straße 288 liegen sich zwei Sphingen gegenüber (Abb. 1). Von dort geht es einen kurzen Weg entlang zur schmucklos gehaltenen Aussegnungshalle.  Ihr gegenüber befinden sich in einem Halbrund eine Kreuzigungsgruppe, eine Exedra und das Ehrengrab Hans Grässels. Darin sind auch Grässels Frau Rosa, geb. Heimeran (1861-1926), und der Sohn, der Kunsthistoriker und Bibliothekar Hans Grässel jun. (1888-1950), begraben.

Die Kreuzigungsgruppe mit den Figuren der Maria und des Johannes gestaltete der Bildhauer Prof. Georg Schreyögg (1870-1934); sie wurde Ende November 1908 fertig gestellt.[1] Die Exedra (Abb. 2) birgt, mehrfach versteckt, ein poetisches Geheimnis. In die Rückseite der Rückenlehne, sind Verse Goethes eingemeißelt, wenn auch durch Gebüsch und Ranken schlecht zugänglich und wegen Flechtenbewuchs nur noch mühsam entzifferbar: 

Natur u. Kunst, sie scheinen sich zu fliehen
Und haben sich, eh‘ man es denkt, gefunden:
Der Widerwille ist auch mir verschwunden,
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.

Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
U. wenn wir erst in abgemessnen Stunden
Mit Geist u. FleiSS uns an die Kunst gebunden,
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.

So ist’s mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundEne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

Wer GroSSes will, muSS sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.

Goethes berühmtes Sonett (1800) ist eine versteckte Botschaft des Architekten Grässel und fasst all seine architektonisch-künstlerischen Intentionen treffend zusammen.[2] Das zeigt besonders gut der Vergleich mit dem Bild- und Textprogramm des Neuen Nordfriedhofs  an der Ungererstraße 130. Die dort vor der Aussegnungshalle aufgestellten Sphinx-Figuren aus Löwenleibern und Hahnenköpfen sind als „apokalyptische Tiere“ in Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig (1912) bewahrt worden. Ihr jahrzehntelanges Verschwinden und ihre Rekonstruktion samt Wiederaufstellung in den Jahren 2019/20 ist Thema einer eigenen Publikation.[3]

 


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[1] Vgl. Wolf, Georg Jakob: Münchener Waldfriedhof. Augsburg 1928, S. 20.

[2] Zu Hans Grässel vgl. Heißerer, Dirk: Das Rätsel der Sphingen vom Nordfriedhof. Bewahrung bei Thomas Mann, Verlust und Rekonstruktion. Würzburg 2020, S. 7-46 sowie 107-110.

[3] Heißerer 2020 (wie Anm. 2).

Verfasst von: Dr. Dirk Heißerer