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15.08.2014, 16:48 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [465]: Neujahr bei Jean Paul

Der lange 38. Sektor ist vorübergegangen, der 39. beginnt, es ist Neujahr, ganz so wie an einer wichtigen Stelle des Siebenkäs. Viel ist passiert, eine dramatische Wendung ist eingetreten – Zeit, für den Erzähler darüber nachzudenken, was nun das Leben, im Angesicht der Natur, das dieses Leben spiegelt, noch bedeutet. Selbst die Tiere, die Jean Paul so liebte, müssen vor den Schmerzen, die das Leben den Menschen schenkt, zurücktreten: Welches plumpe ausgebrannte Herz müssen die Menschen haben, welche im Angesichte des ersten Tages, der sie unter 364 andre gebückte, ernste, klagende und zerrinnende hineinführet, die tobende schreiende Freude der Tiere dem weichen stillen und ans Weinen grenzenden Vergnügen des Menschen vorzuziehen imstande sind!

Vergnügungen? Dem Leser erscheint das Leben Gustavs wie ein einziger Nebel, der Erzähler weiß es, der erkannt hat, dass der Zwischenraum zwischen Freude und Sehnsucht nicht groß ist und beide, die Freude und die Sehnsucht, in sensiblen Naturen eine Träne vereinigt. Es stimmt: so wie die Erkenntnis einer großen, anrührenden Schönheit oft den Tränenstrom provoziert. Und der Dichter findet das rechte Wort, um im Naturbild den Menschen und seine Sehnsucht wiederzuerkennen. Dies ist Jean Pauls einsame Naturlesekunst:

Du Himmel und Erde, eure jetzige Gestalt ist ein Bild (wie eine Mutter) einer solchen Vereinigung: die in unser frierendes Auge tröstend hineinblickende Lichtwelt, die Sonne, verwandelt den blauen Äther um sich in eine blaue Nacht, die sich über den blitzenden Grund der beschneiten Erde noch tiefer schattiert, und der Mensch sieht sehnend an seinem Himmel eine herübergezogene Nacht und eine Licht-Ritze: die tiefe Öffnung und Straße gegen hellere Welten hin....

Wir haben schon gelesen, wie es weitergeht. Neujahr war's, die Glocken der Türme läuteten das neue Jahr ein. Wie lange ist das schon wieder her... Hat man inzwischen mehr Schmerzen oder mehr Freuden erlitten? War die Sehnsucht eher auf dieser oder jener Seite zuhause?

Dies muss sich jeder Leser selbst beantworten.

Fotos: Frank Piontek, 6.8. 2014