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25.06.2020, 16:48 Uhr
Leonhard F. Seidl
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Foto: Katrin Heim

Aktueller Romanauszug aus „Arsen“ von Leonhard F. Seidl

Leonhard F. Seidl, 1976 in München geboren, lebt als freier Schriftsteller in Fürth. 2019 erhält er für sein Romanprojekt Arsen die Unterstützung der 2017 in München gegründeten Stiftung Literatur. Letzten Samstag hat er mit einem Auszug aus diesem Projekt den 3. Platz beim Literaturwettbewerb Goldener Blumentopf des Pegnesischen Blumenordens belegt. Wir bringen hier seinen Text.

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Von oben

 

Sie kletterten auf den Jägerstand am Ufer, der den beiden Männern gerade so Platz bot. Nun lag der Weiher, inmitten des Sollacher Forstes, umgeben von Schilf und Bäumen, verschlafen vor ihnen. Nebel stieg auf, Raureif hatte sich in Spenglers Knochen geschlichen. Forstrat Escherich lehnte sein Gewehr an den Sitz. Die Kameraden bissen in die dick mit Butter bestrichenen, mit Wurst belegten Graubrote. Escherich nahm das Jagdglas in die freie Hand und sah auf den Weiher hinunter. Eine Traube Mücken schwirrte über dem trüben Gewässer. Hinter einer Entenmutter in schwarz-braun-weißem Federkleid mit dem blau-weiß gesäumten Band an der Seite, eine Märzente, durchpflügte ein halbes Dutzend Jungen das Wasser. Sie folgten ihr in militärischer Disziplin, in V-Formation, der Form ihrer Latschen nicht unähnlich. In ihren gerade aus dem Ei geschlüpften schmutzig-grauen Federchen, am Hals gelblicher Flaum. Escherich suchte das Wasser und das Ufer, das Schilf und die Seerosen ab, doch der Erpel mit seinem grün-braunen Prachtkleid war nirgends zu sehen. Die Mutter stoppte, gründelte stumm, die Bieberl taten es ihr unbeholfen nach. Die Wellen, die sich über die Wasseroberfläche ausgebreitet, verebbten am verwachsenen Ufer. Da raschelte es kaum hörbar im Gebüsch. Spengler legte das Wurstbrot in seinen Schoß, nahm sein Jagdglas an seine schlechten Augen. Sah, wie sich das Schilf bog. Zu seiner Enttäuschung schob sich lediglich eine Gans in den Weiher. Wie die Entenmutter und ihre Jungen wohl  reagieren würden? Vor Aufregung beschlug die Linse. Die Gans schwamm zielgerichtet auf die Mutterente und ihre Jungen zu. Noch hatte die Ente sie nicht bemerkt. Sie tauchte mit dem Kopf ab, schlug mit den Flügeln auf die bräunliche Wasseroberfläche und kippte vornüber. Der Bürzel ragte senkrecht aus dem Wasser. Nach dem Gründeln zog die Entenmutter ihren Kopf aus dem Wasser, plusterte sich auf, schüttelte das Nass von den Federn und vom Kopf; und entdeckte die Gans. Ihr Schnattern zerschnitt die andächtige Stille am Weiher. Verstört stoben die Jungen auf, schwammen davon. Das kleinste Küken paddelte verwirrt in Richtung der Gans, stoppte, machte kehrt, doch da hatte die Gans es bereits erreicht. Mit ihrem großen Schnabel packte die Gans das winzige Entlein von hinten am Nacken und drückte es unter Wasser. Die Mutter schnatterte nun noch aufgeregter, versuchte die übrigen Jungen zu sammeln. Schwamm kurz in Richtung ihres Kleinsten, gefolgt von ihren Küken, überlegte es sich dann aber doch anders und machte kehrt. Der winzige Kopf tauchte wieder auf, der große Schnabel über ihm öffnete sich und schnappte zu, tauchte im Zuschnappen das Tierchen unter, seine kleinen Latschen wirbelten das Wasser kaum merklich auf. Escherich schnaufte lautstark aus, nahm das Jagdglas von seinen Augen. Der Forstrat nahm die Büchse, legte an und zielte. Spengler atmete schneller. Er unterdrückte den Impuls, die Hand zu heben und den Forstrat daran zu hindern, dieses gewaltige Naturschauspiel, dieses Spiel von Stärke und Werden zu stören. Seine linke Hand verkrampfte sich. Das Weiß der der Knöchel trat hervor. Hier war der Forstrat der Herr, der Wald sein Reich, die Tiere seine Volksgemeinschaft.

Spengler versuchte sich auf den Überlebenskampf zu konzentrieren, solange der noch ohne den Eingriff von außen vonstattengehen konnte. Das Entenküken tauchte einen Fußbreit vor der Gans auf, strampelte wild davon, die Gans ließ es fliehen. Für einen Moment. Dann bewegte sich die Gans, scheinbar ohne Mühe, lautlos hinter dem Küken her, bis die Bauchspitze fast den Federkiel des Kükens berührte. Die Mutter machte noch einmal kehrt, die anderen vier Küken folgten ihr, sie schnatterte, sie folgten ihr trotzdem, sie drehte um. Und da erreichte auch die Gans das Küken. Stupste es erst an, wie ein Hund einen Ball, ein Spielzeug, sodass der Unterleib untertauchte, dann ließ sie ab von ihm. Holte auf, biss nach dem kleinen, zarten Körper, immer und immer wieder. 

Der Forstrat atmete gleichmäßig, die Flinte fest in der Ellenbeuge, still und mit ruhiger Hand.

Die Gans packte das Küken erneut, tauchte das geschwächte Tier, das sich kaum mehr wehrte, unter. Die schwarz-grauen Füßlein tauchten auf, mit dem nackten Bauch. Dann fiel der Schuss. Rauch stieg auf. Etwas krachte unweit des Ufers ins Gehölz. Die Gans hatte von dem Entlein abgelassen. Leblos schwamm es mit dem Bauch nach oben auf dem Wasser.

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