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06.06.2014, 10:43 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [421]: Fünf groteske Minuten bei der Residentin

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Cover der Insel-Ausgabe der „Perserbriefe“ von Motesquieu

Daher war seine Reisebeschreibung anderer Länder eine Satire seines eignen, und wie die französischen Schriftsteller unter den Sultanen und Bonzen des Orients einige Zeit die des Okzidents abmalten und abstraften: so war in seinen Erzählungen der Süden der Lehnträger und Pasquino des Nordens.

Mag sein, dass sich Ottomar vorsetzte, wie Jean Paul nach seinem Todeserlebnis die Menschen mehr zu lieben als vorher. Mag sein, dass er sich zumindest eine sanfte Menschen-Duldung auferlegte – der Vorsatz hält nicht lange (nur so lange, wie die sanfte Nerven-Herabschraubung nach einem Weinrausch dauert), der Satiriker bricht wieder durch, Jean Pauls eigene satirische Ader bricht sich Bahn. Er bleibt der alte, gallige Aufklärer, dem die politische Theorie wichtiger ist als die alltägliche Praxis:

Auch war ihm wenig daran gelegen, von denen geachtet zu werden, die er selber nicht achtete; mitten unter großen philosophischen, republikanischen Ideen oder Idealen wurden ihm die Kleinigkeiten der Gegenwart unsichtbar und verächtlich, jetzt zumal, wo die künftige Welt oder die künftigen Welten die dünne verfinsterte, auf der er nach jenen hinsah, wie man durch das geschwärzte Sehrohr keinen Gegenstand erblickt als die Sonne.

Kein Wunder, dass er – als getreuer Schüler Montesquieus – in seinen Erzählungen fremder Länder und Menschen (wie der Jeanpaulianer Schumann das genannt haben würde) im Fremden das Eigene entdeckt, indem er es satirisiert: so wie Montesquieu, der zwischen 1717 und 1721 seine berühmten Lettres persanes schrieb, um die französischen Zustände aufs Korn zu nehmen[1]. Eines aber hat mich, schreibt der Autor in seiner Einleitung, immer wieder erstaunt: zu sehen, wie diese Perser nicht selten über die Sitten und Gebräuche unserer Nation ebensogut Bescheid wussten wie ich, wie sie sie bis in die feinsten Einzelheiten hinein durchschaut und Dinge beobachtet haben, die sicher den meisten Deutschen, die nach Frankreich reisen, entgangen sind. In einer Vorrede zu einer Ausgabe der Perserbriefe hat Montesquieu sich noch 1754 gegen den Vorwurf gesetzt, er habe die Briefe erfunden – ein literarischer Trick, der seinerzeit zwar nicht mehr nötig war, aber darauf verweist, dass das Spiel mit den Fiktionen niemals aufhören muss. Auch Jean Paul hat es gewusst: bei seinen Vorreden und Vorreden zu den Vorreden[2]. Der Autor kann sich so wenig verleugnen wie sein Held, der Protagonist so wenig wie sein Erfinder: dies sind so die Spiegelungen und Doppelungen, denen das Werk Jean Pauls unterliegt. Angesichts dessen ist es möglicherweise unsinnig, alle biographistischen Deutungen abzuwehren, ja zu leugnen und bei der puren Immanenz zu verharren.

Apropos Doppelungen: dieses Prachtexemplar eines siamesischen Zwillings findet sich in Johann Friedrich Meckels d.J. De duplicitate monstrosa commentarius von 1815. Der Anatom widmete dieses großformatige Werk mit dem herrlichen Faltblatt – wem wohl? - dem Erfinder des Dr. Katzenberger, des Liebhabers aller tierischer und menschlicher Monstrositäten. Wer sich das Blatt im Original anschauen möchte, kann dies im Bayreuther Jean-Paul-Museum tun.

Ottomars Satirik äußert sich etwa in Folgendem:

So brachte er z. B. fünf groteske Minuten bei der Residentin damit zu, dass er – da den eigentlichen Körper der Seele nur Gehirn und Rückenmark und Nerven ausmachen – den vernünftigsten Hofdamen und den schönsten Hofherrn die Haut abschund in Gedanken, ihnen ferner die Knochen herauszog und das wenige Fleisch und Gedärm, was sie umlag, wegdachte, bis nichts mehr auf der Ottomane saß als ein Mark-Schwanz mit einem Gehirn-Knauf oben dran. Darauf ließ er diese umgekehrten Klöppel oder aufgerichteten Schwänze gegeneinander anlaufen und agieren und Fleuretten sagen und lachte innerlich über die gescheitesten Leute von Geburt, die er selber skalpiert und abgeschuppet hatte. Das nennen viele das philosophische Pasquill.

Wie man sieht, hat Ottomar in diesen Momenten das sezierende Interesse eines Doktor Katzenberger erreicht. Eine schöne Menschenliebe, denkt sich der lesende Humanist. Eine schöne Szene, denkt sich der lächelnde Humorist.

Johann Friedrich Meckel d.J. und sein bester Freund und Leibbruder, der Dr. Katzenberger

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[1] 1988 kamen sie in einer schönen Ausgabe im Insel-Verlag heraus, auf die hier nachdrücklich verwiesen sei.

[2] In der Introduktion hat Montesquieu geschrieben, dass sein Briefwerk bei den Zeitgenossen wie ein Roman gelesen wurde, der deshalb erfolgreich gewesen sei, weil „einen die Leidenschaften weit mehr ergreifen, als das der Fall wäre, wenn nur in Erzählform über sie berichtet würde.“ Dies eben sei auch der „Grund für den Erfolg einer reizender Werke“ gewesen, die nach den Lettres persanes erschienen. Welche das sind, schreibt er nicht, aber in einer erhaltenen Frühfassung dieser Einleitung hat er, neben einem zweiten Titel, einen wichtigen Namen und ein Werk dieses Autors genannt: Samuel Richardsons Pamela.