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10.05.2013, 10:22 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [152]: Ein bestürzender Traum

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Auch ein Traum (der Wesentliches mit der Wirklichkeit aller Zeiten gemein hat) aus der guten alten Jean-Paul-Zeit: eine Illustration aus der 1797 publizierten „Nouvelle Justine“ des Marquis de Sade.

Plötzlich geht es wieder ans Eingemachte. Der Ton wechselt, nachdem sich der Erzieher von Gustav verabschiedet hat. Lassen wir mal dahin gestellt, woher er weiß, wie es in Gustavs Allerinnerstem aussieht. Vergessen wir einmal, dass es ein bloßer Kunsttrick ist, der es allein begreifbar macht, wieso der Autor und Erzähler so genau den Traum Gustavs nacherzählen kann – der Traum selbst ist so betörend, so sprachmächtig in seiner bestürzenden Surrealität, dass derartige Fragen der Poetik erst gar nicht aufkommen, oder anders: dass sie zwar aufkommen, aber sogleich für ungültig erklärt werden müssen. Es ist eben dies ein Prinzip dieses Romans: dass die Collage sich selbst erklärt. Das Mosaik ist bunt und kontrastreich, wieso sollte man diese Buntheit kritisieren?

Bestürzend? Das ist ein großes Wort, es klingt ein bisschen übertrieben, ja banal – aber der Traum, den „Jean Paul“ nun erzählt, wirft einen Schatten ins Gewebe, den man nicht als selbstverständlich nehmen sollte. Preisfrage: Wo hat es in der Literatur von 1791 derartiges gegeben (wir vergessen mal ein paar Augenblicke, dass der Marquis de Sade im Jahre 1791 seinen Roman Les Infortunes de la vertu, eine erste Fassung der Justine, veröffentlichte, in dem die Gewalt zu albtraumhaften Szenen findet)?

Ihm kams darin vor, als zerlief' er in einen reinen Tautropfen und ein blauer Blumenkelch sög' ihn ein – dann streckte sich die schwankende Blume mit ihm hoch empor und höb' ihn in ein hohes hohes Zimmer, wo sein Freund, der Genius, oder Guido mit dessen Schwester spielte, dem der Arm, sooft er ihn nach Gustav ausstreckte, abfiel und dem die Schwester ihn wieder reichte. Auf einmal knickte die Blume zusammen, und niederfallend sah er drei weiße Mondstrahlen seinen Freund in den Himmel ziehen, der die Blicke abwärts gegen den Gefallnen drehte. Er erwachte – außer dem Bette am offnen Fenster lehnend, das über den Garten ins schlafende Auenthal sah. Der Himmel sank in einem stummen Strahlen-Regen nieder – am leuchtenden Universum regte sich nichts als die Strahlenspitzen der Fixsterne – die Häuser standen wie Grabmäler, in denen die Sterblichen ausschliefen – die Träume gingen in den geschlossenen Sinnen der Sterblichen aus und ein, und der Tod trat zuweilen ein Haupt und den Traum darin entzwei.

So findet der Alb-Traum seine Fortsetzung in einer Wirklichkeit, die der Erzähler nun in „Auenthal“ ansiedelt. Es ist gleichgültig, wo Jean Pauls Falkenberg, wo sein Ober- und Unterscheerau liegen – irgendwann kommt ihm immer sein Auenthal dazwischen, das man erfolgreich im Joditz seiner Kindertage gefunden hat. Das Schulmeisterlein Wutz, das im Anhang der Unsichtbaren Loge seinen großen Lebensauftritt haben wird, ist ja auch ein Auenthaler. Surreal erscheint das Verfahren, die Fiktionen der Orte in eine Gegend umzuleiten, die Jean Pauls eigenste Heimat ist: das, was er in seiner Selberlebensschreibung als „geistigen Geburtsort“ bezeichnet hat. Genau aus diesem Grund aber ist Auenthal[1] auf keiner Karte zu finden. Es ist gerade die mehrmalige Erwähnung dieses paradiesisch konnotierten „Auenthal“, die aus Jean Pauls Werk das Gegenteil von „Heimatliteratur“ macht, oder anders: Joditz ist in seinem Werk, in Hegelschem Sinne, aufgehoben: also zugleich bewahrt und überwunden worden. Daher ist der Verweis des verehrten Eberhard Schmidt, des guten Gründers und Leiters des Joditzer Jean-Paul-Museums, auf Joditz als Auenthal nur bedingt richtig: im Werk ist Joditz definitiv nicht mehr vorhanden. Die surreale Überhöhung und Integration „Auenthals“ in die Traumlandschaft der Unsichtbaren Loge hat nun wirklich nichts mehr mit dem kleinen Ort im Vogtland zu tun (oder doch nur insofern, als dass der Dichter die Szenerie seiner Jugend zur Ausmalung übersteigerter Szenarien missbrauchte – auch aus diesem Grund können wir sagen, dass Jean Paul Weltliteratur geschrieben hat. Wenn die Joditzer wüssten, dass hier die Häuser wie Grabmäler standen, in denen die Sterblichen ausschliefen... natürlich wissen sie's.

Gustav also leidet, er ruft sich vergeblich seinen „Geliebten“, den Genius zurück. Nun passiert etwas höchst Sonderbares:

Ach du tausendfach Geliebter! sende mir von deinem Himmel wenigstens deine Stimme!“ – Unversehends schnitt etwas vor dem Fenster die Luft entzwei und rief „Gustav“, und im fernen Weiterfliegen riefs zweimal höher herab „Gustav, Gustav“. Ein Eisberg fiel auf seine starrende Haut in der ersten Sekunde; aber in der zweiten glühte er wieder an, gab seine Arme dem Tode und dem Freunde und schlug das Auge an einer Luftstelle unter dem Mondblenden ein, um etwas zu sehen.

Da wird die Wirklichkeit zu einem Traum, der den Leser in Verwirrung stürzen muss. Traum und Wirklichkeit werden so eins wie die „zwei Welten“, die für Gustav nun vereinigt sind, doch scheint es eine Erklärung für die himmlische Stimme zu geben. Jean Paul traut selbst dem Spuke nicht, er braucht den Starmatz, um eine Erklärung für das Übernatürliche zu finden. „Der alte Starmatz tats vermutlich, der, so viel ich weiß, aus dem Bauer entkommen war.“ Vermutlich... Dem Leser ist es denn doch lieber, die Frage offen zu lassen – selbst dann, wenn er nicht zum Obskurantismus neigt.

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[1] Hier muss, gleichsam reflexhaft, der Verweis auf das weltbekannte „Auenland“ folgen, das der große Dichter J. R. R. Tolkien erfunden hat: eine ländliche, annähernd idyllische Gegend, die nur auf den Landkarten Mittelerdes verzeichnet ist, das aber noch nie jemand betreten hat - „nur“ im Geiste. Auch das Auenland birgt und bewahrt die Erinnerungen an Tolkiens geliebte Heimat: die Umgebung von Birmingham.